Als ich meinen zweiten Roman zu schreiben begann, hatte ich eine Idee – aber ich kannte sie nicht. So kommt es mir jetzt vor. Nach mehreren Jahren des Schreibens. Umschreibens. Verwerfens von Figuren, Passagen, Kapiteln, Handlungssträngen. Vor drei Jahren schien der Text zum ersten Mal „fertig“ zu sein. Aber dann stimmte etwas daran doch noch nicht. „Funktionierte“ nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Oder war zuviel.
Was ist überhaupt geblieben von der Idee, den Ideen des Anfangs? Von der ersten Version des Textes? Erstaunlich wenig. Selbst der erste Satz, der sich so lange behaupten konnte, und den ich so stark fand, der lange Zeit überhaupt alles zusammenhielt, selbst „Christoph ist verschwunden“, ist verschwunden. Ist einer Änderung der Perspektive zum Opfer gefallen. Das ist wohl, was man „Kill your darlings!“ nennt.
Aber Christoph gibt es weiterhin und er verschwindet auch immer noch. Und seine Freundin Katharina, die Schriftstellerin ist und nun die Perspektivfigur des Romans, hat auch sämtliche Überarbeitungsschritte überlebt. 20 Prozent der ersten Version, würde ich schätzen, finden sich in überarbeiteter Form noch im aktuellen Manuskript, das im kommenden Frühjahr als Roman bei Klöpfer & Meyer erscheinen wird. Es ist nicht so, dass ich behaupten will, das müsse so sein. Nur so könnten gute Texte entstehen. Ich schreibe mittlerweile an einem neuen Roman und ich bin sicher, dass es da ganz anders sein wird. Dass ich jetzt schon viel klarer sehe, was ich erzählen will und auf welche Weise. Und ich bin sehr froh, dass es so ist.
In Romanwerkstätten ist das ein drängendes Thema: Was muss ich wissen, um mit dem Schreiben eines Romans beginnen zu können? Gibt es ein Minimum an Figurenkenntnis oder Handlungsplanung? Ist es möglich nichts weiter zu habebn, als einen (ersten) Satz? Und vor allem: Kann das gut gehen?
Meine erste Antwort ist immer: Es gibt solche und solche. Planer:innen und Drauflosschreiber:innen. Beide Verfahren haben schon unzählige Male zu überzeugenden Ergebissen geführt – und die meisten Autor:innen pendeln sich vermutlich irgendwo dazwischen ein. Planen vielleicht grob oder zumindest die nächsten 20 Seiten – und bleiben gleichzeitig offen für neue Ideen, die sich während des Schreibens erst ergeben. Es ist also eine Frage des Autor:innen-Typs und natürlich auch des Text-Typs. Verfasser:innen von Thrillern werden prozentual häufiger „plotten“, als Autor:innen „literarischer“ Texte – das ist keine besonders kühne These. Und dann scheint es mir auch eine Frage der Erfahrung zu sein. Weswegen ich hier darüber schreibe. Weil ich glaube, dass wir uns manchmal damit abfinden müssen, dass wir nicht klarer sehen können, als wir sehen – auch wenn es hilfreich wäre.
Es ist eine meiner Lieblings-Paradoxien, dass wir oft nur schreibend herausfinden können, was wir „eigentlich“ schreiben wollen. Indem wir etwas schreiben, das noch nicht das ist, was wir schreiben wollen. Aber wenn wir lesen, wie die so entstandenden Texte in die Nähe der Geschichten führen, die darauf warten, von uns erzählt werden, kommen wir zu „unseren“ Geschichten. So habe ich es erlebt. Und ich würde hier vermutlich nicht darüber schreiben, wenn ich nicht den Eindruck hätte, dass die Schieflage mancher Romanmanuskripte, die ich zu lesen bekomme, damit zu tun hat: Dass die Suche zu früh beendet wurde, die erste Idee festgeklopft wird und „durchgesetzt“ – komme, was da wolle. Die wenigsten von uns können aus jedem beliebigen Stoff einen wirklich guten Text schreiben. Es bleibt schwierig genug, selbst wenn wir „unsere Geschichte“ gefunden haben – also sollten wir uns die Zeit lassen, die es eben manchmal braucht und darauf vertrauen, dass wir uns mit gewonnener Praxis den ein oder anderen Umweg sparen können …
Das ist eine wirklich schöne – und auch mutmachende These. 🙂
….und ich bin schon gespannt auf deinen neuen Roman.
Hi Saraha Maria,
das freut mich beides – sehr! Herzliche Grüße!
Super! Sehr hilfreich! Ich „brüte“ gerade über meinem ersten Roman und habe mir die Schneeflocken-Methode vorgenommen. Aber bis jetzt habe ich noch nicht einmal den erste Satz 😦 dabei bin ich nicht unerfahren im Bücher schreiben… Gibt es einen empfehlenswerten Kurs???
Corinna
Liebe Corinna, ob und für wen ein Kurs passt, das lässt sich leider meistens erst im Nachhinein sagen – es gibt da über Fußballtrainer ein schönes Zitat von Marco van Basten: Von zehn Trainern bringt dich einer weiter, bei sechs ändert sich nichts und bei dreien wirst du schlechter 😉 Kleiner Tipp, der sich schon öfter in der Praxis bewährt hat: Vielleicht beginnst du nicht mit „dem Anfang“, sondern mit einer Szene oder einem Dialog, die du relativ klar vor Augen hast? Herzliche Grüße!
Anfangs kann die Vorstellung einer scheinbar endlosen Überarbeitung und Weiterentwicklung verunsichern. Wenn man erst einmal in diesem Prozess steckt, wird es immer selbstverständlicher. Ich habe für mich schon festgestellt, dass ich nur so weiterkomme. Dass es anderen auch so geht, macht Mut, gerade uns Autodidakten. Danke Jutta. Und viel Erfolg für deinen Roman.
Die Erfahrung habe ich auch gemacht: Anfangs scheint die Vorstellung auch nur eine halbe (ja vielleicht mühsam angefertigte) Seite in den Papierkorb zu werfen, wie eine Katastrophe – später stellt sich Erleichterung ein, wenn die andere Hälfte „bleiben“ darf … Und schönen Dank für deine guten Wünsche!
„Es ist eine meiner Lieblings-Paradoxien, dass wir oft nur schreibend herausfinden können, was wir ‚eigentlich‘ schreiben wollen. Indem wir etwas schreiben, das noch nicht das ist, was wir schreiben wollen.“ Wie schon bei Kleist, der ebenso von einer skrupulösen Selbstreflexivität getragen war:_ „Über die Verfertigung der Gedanken beim Sprechen“ ebenso im Marionettentheater u.a. über den anmutigen Effekt. Das Schreiben eine derart einzigartige Kulturleistung, weil es komplexe Gedanken und Bezüge, die nicht in zwei Sätzen oder in Diskussionen sich formulieren lassen, in Wörtern, die Sätze bilden, in ein Form und Gestalt bringt. Erst wenn wir schreiben, „entsteht“ sozusagen das Gebäude des Denkens, das dann am Ende in einen (mehr oder weniger) komplexen Text übergeht. Sicherlich haben wir in unseren Vorüberlegungen bereits eine Art von Fundament gelegt und den einen oder anderen Stein gesammelt. Aber noch liegt alles lose auf dem Bauplatz und wir suchen nach Möglichkeiten, spielen und basteln mit diesem Steinen, die zuweilen eine arge Last sein können. Aber irgendwann nimmt es Gestalt an: der Text. Für Romane oder längere Essays und Abhandlungen braucht es freilich einen langen Atem und eine der kostbarsten Ressourcen, die es auf dieser Welt gibt: die Zeit.
Vielen Dank für diesen klugen Kommentar! Mir gefällt die Vorstellung von den Steinen, die lose herumliegen sehr. Und manchmal, wenn man sie hierhin und dorthin getragen hat, versucht hat sie einzupassen, stellt man fest, dass es doch ganz andere Materialien sind, die man an dieser Stelle, vielleicht sogar überhaupt benötigt. Und dann gibt es eben sicher die Freude, wenn man alles so halbwegs beisammen und in eine Form gebracht hat, die zu stimmen scheint …
Ja, genau. Auch aus der nicht-fiktionalen Perspektive stelle ich immer wieder fest, dass sich beim Schreiben wunderbar herausfinden lässt, wie eine Geschichte erzählt werden will.
Bevor ich deinen Kommentar las, hatte ich nicht darüber nachgedacht, inwieweit sich diese Erfahrung auch auf nicht-Fiktionales übertragen lässt – und freue mich jetzt umso mehr über deinen Hinweis!