Randnotiz: Aber was genau ist denn das „Autobiografische“ am „autobiografischen Text“?

Was man auf den ersten Blick für eine unsinnig spitzfindige Frage halten könnte, weist bei genauerem Hinsehen auf einen tatsächlich erstaunlich komplexen Sachverhalt hin. Zur Erläuterung folgendes Gedankenexperiment:

Eine Familie auf dem Weg in den Urlaub. Gereizte Stimmung. Die Tochter kneift den Sohn, weil der ihrer Puppe die Zunge rausgestreckt hat. Rangelei. Der Vater brüllt die Kinder an, die Mutter den Vater, er solle nicht brüllen. Dann:  Ein Auffahrunfall. Zum Glück ist auch im anderen Auto niemandem etwas passiert.

Im Urlaub bleibt die Stimmung gereizt und zwei Tage vor der Rückreise eröffnen die Eltern den Kindern, dass sie sich scheiden lassen wollen. Der Sohn erprobt gerade sein Talent für das Aufspüren kausaler Zusammenhänge und erkennt sofort: ohne Zungerausstrecken, kein Streit; ohne Streit, kein Gebrüll; ohne Gebrüll, kein Unfall; ohne Unfall, keine Scheidung. Also: Schuld!

Da für den Jungen der Sachverhalt erschütternd eindeutig ist, redet er nicht über seine Erkenntnis, wird stattdessen später Schriftsteller.

Welche Texte können wir von ihm erwarten oder richtiger: Bei welchen Texten wären wir geneigt, sie autobiografisch zu nennen? Bei solchen, die das Thema Schuld aufgreifen, es immer wieder umkreisen – ohne dass je von einem Unfall, einem Kind die Rede wäre? Oder vielleicht, wenn von „Schuld“, überhaupt von moralischen Fragen nie die Rede ist, auch nicht unausgesprochen? Wenn die Hauptfiguren stets Kinder sind? Kinder, die die Welt retten – oder zumindest ihre Eltern? Oder wenn es, irgendwo im Text stets einen folgenschweren/folgenlosen Unfall gibt? Sprachlosigkeit?

Was mir an diesem Gedankenexperiment gefällt: Es löst die vermeintliche „Eindeutigkeit“ auf, die zwischen den realen Ereignissen und dem späteren Text existiert und die auf den ersten Blick nahelegt, dass es nur eine einzige Möglichkeit, eine einzige Verbindung gibt. Es gibt unendlich viele und nie determiniert das reale Geschehen den Text.

Jonathan Franzen nennt es in seinem Essay „Was ist autobiographische Literatur“ (dt. 2013) ein wichtiges Paradox: „das ich hervorheben möchte: Je größer der autobiographische Gehalt im Werk eines Schriftstellers, desto geringer die oberflächliche Ähnlichkeit mit seinem eigentlichen Leben.“

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