30. Texte sind oft klüger als ihre Autoren

„Texte sind oft klüger als ihre Autoren“, las ich zum ersten Mal bei Jurek Becker und hielt es für die kokett-bescheidene Behauptung eines Schriftstellers, an dessen enormer Klugheit für mich kein Zweifel bestehen konnte. Kein Autor, keine Autorin hat mich als Jugendliche so beeindruckt wie Jurek Becker. Mehr noch als „Jakob der Lügner“ begeisterten mich „Bronsteins Kinder“, „Aller Welt Freund“, „Der Boxer“ und „Irreführung der Behörden“. Unmöglich, dass dieser Satz eine ernstgemeinte Behauptung enthalten könnte.

Etwa zwanzig Jahre lang begegnete mir diese Aussage immer wieder. Auch mit der Verfasserangabe Marcel Reich-Ranicki. Zuletzt las ich ihn im wunderbar vielseitigen Blog „SätzeundSchätze“ in einem Gastbeitrag von Bernd Hohlen über Jack Finney in leicht veränderter Form: »Das Werk sollte immer ein wenig schlauer sein als der Autor«, mit der Verfasserangabe Vaclav Havel.

Mittlerweile bin ich überzeugt, dass diese so paradox anmutende Behauptung einen großartigen Aspekt des Schreibens wiedergibt: Texte können tatsächlich klüger sein als ihre Autoren! Drei Umstände mögen dazu beitragen: Während es für Musiker_innen und Sportler_innen auf das entscheidende Ereignis des Konzertes oder Wettkampfes ankommt und sie sich darin bewähren müssen (was sich im Sport u. a. in der abfälligen Rede vom „Trainingsweltmeister“ äussert), können Schriftsteller_innen ihre Texte fortwährend verbessern, können theoretisch den „hellsten Moment“ eines jeden Tages nutzen und mit dem des folgenden Tages verbinden, sie können also näher an das ihnen „potentiell Mögliche“ kommen, als das in anderen Bereichen der Fall ist.

Und das gilt, zweitens, nicht nur für diese „zeitliche“ Ebene, sondern auch, weil wir ja in unserem Leben erheblich mehr Wissen, mehr Kenntnisse, mehr Erfahrungen sammeln, als wir willkürlich formulieren oder benennen können. Anders gesagt:  Wir wissen oft mehr, als wir „bewusst“ wissen – und wenn diese erhebliche Differenz, dieser „Überschuss“ in unseren Texten landet, dann findet sich dort möglichweise eine Klugheit, über die wir sonst kaum verfügen.

Der letzte Aspekt ist einer, dessen Ausmaß Leser_innen oft unterschätzen: Die Texte entstehen ja „wirklich“ erst in den „Köpfen der Leser_innen“ – und insofern ist die Klugheit eines Textes die Summe aller möglichen so entstehenden Texte – was dann der Autorin, dem Autor nur insofern zugeschrieben werden kann, weil sie, weil er die Zutaten bereit gestellt hat …

6 Kommentare

  1. Von Jurek Becker mag ich sehr gerne auch den Roman „Amanda Herzlos“ – was mich angesichts Deines Textes (und danke für den pingpong) auf eine weitere Assoziation bzw. Anmerkung bringt: Texte sind ja nicht nur mit/von dem klugen Kopf geschrieben, sondern auch mit „Herz“ – und das können ja selbst die klügsten Köpfe nicht ausknipsen beim Schreiben. Aber auch die Gefühlsebene, die in einen Text einfließt, verändert sich, im besten Falle mit zunehmenden Alter werden Kopf- und Gefühls (=Bauch)-Ebene eins und dann entstehen Texte von unvergleichlicher Weisheit.

    1. „Amanda Herzlos“ mochte ich auch – aber es hat mich nicht so begeistert, so sehr berührt, wie es bei den anderen Texten der Fall war. Ansonsten beschleicht mich der Verdacht, dass du in wenigen Zeilen auf den Punkt bringst, was ich sagen wollte 😉

      1. Oh, dabei war das jetzt ja ein eher unreflektiertes schnelles Schreiben – aber vielleicht sollte man das Aus-dem-Bauch-raus-schreiben auch nicht unterschätzen 🙂

  2. Das ist nur teilweise richtig. Texte können zum Beispiel keine Nägel in Wände schlagen, keine 3-Minuten-Eier kochen, taugen nicht zum Bügeln oder Sockenstopfen, haben niemals, soweit mir bekannt, Autos, Flugzeuge oder Rasenmäher gesteuert. Allerdings ist mir einiges davon von deren Autoren bekannt.
    Was das Unbewusste angeht, davon weiß ich nichts.
    Allerdings, läge ich mit allem falsch, mit dem, was ich hier schreibe, müsste ich Ihnen dennoch zugeben, dass die Theorie zumindest in meinem Fall stimmt. In dem Fall würde ich raten, meinen Kommentar nicht zu lesen, weil keiner wissen kann, was dann „wirklich“ im Kopf des Lesers entsteht. Dafür will ich nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

  3. Herr Hund, auch wenn Ihr Text andere Lesarten ermöglicht, bleibt mein Eindruck: Wir verstehen uns! Ich danke sehr für lautes Gelächter und teile, obwohl normalerweise sehr auf Diskretion bedacht, gerne mit: Auch ich bin in der Lage einen Rasenmäher zu steuern!

Ich freue mich über Kommentare!

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