25. Vom schwierigen Umgang mit Gefühlen (auch) beim Schreiben von Geschichten

Vor kurzem ging es durch die Presse: Das Lesen von Romanen steigert die Empathiefähigkeit. George Eliot wusste das schon 1856 und schrieb: „Der größte Gewinn, den wir dem Künstler verdanken – ob Maler, Dichter oder Romanautor -, ist die Ausdehnung unserer Anteilnahme (…) Die Kunst (…) bietet einen Weg unsere Erfahrung zu erweitern und den Kontakt zu unseren Mitmenschen über unsere persönlichen Grenzen hinaus auszudehnen.“ (Dieses Zitat stammt aus einem Essay über den deutschen Realismus „The Natural History of German Life“. Ich habe es gefunden in dem großartigen Buch „Die Kunst des Erzählens“ von James Wood).

Nicht zuletzt die mit Erlebnissen, Ereignissen verbundenen Gefühle, bilden unsere Schreibanlässe und als Leser:innen interessiert uns nicht zuletzt, ob wir von einem Text (emotional) berührt werden. Als wenn das nicht schon genug des ja immer schwer zu fassenden Gefühlslebens wäre, benötigen natürlich auch unsere Figuren Gefühle, sonst bleiben sie unbeseelte Roboter.

Über die Gefühlslagen von Autor:innen möchte ich hier nicht viel spekulieren, nur zwei Erfahrungen erwähnen: eine gelungene Form für ein spezielles Unglück zu finden, kann eine beglückende Erfahrung sein. Und: Eine nicht eingestandene Wut oder ein Ärger, die sich im Text immer wieder Bahn brechen, können diesen vollständig aus der Balance bringen.

Aber hier soll nun vor allem von den Figuren unserer Texte die Rede sein, von ihren Gefühlen und davon, wie wir davon berichten. In einem kombinierten Lese- und Schreibkurs zu Alice Munro waren die Teilnehmerinnen verblüfft, wie stark die Emotionen waren, die der Text in ihnen hervorrief – und wie wenig konkrete Aussagen zu den Gefühlslagen der Figuren sich im Text tatsächlich befanden. Die Geschichte, die wir lasen, hat den Titel „Abschied von Maverley“ und ist in dem Band „Liebes Leben“ (2013) enthalten. Es ist die Geschichte einer großen Liebe: Ein Mann (Ray), aus dem Krieg zurückkehrt, holt seinen Schulabschluss nach und verliebt sich in die Lehrerin Isabel. Isabel stammt aus deutlich besseren Verhältnissen, ist verlobt und alles spricht gegen diese Verbindung – aber sie heiraten. Auf dieses unvorhergesehene Ereignis folgt ein zweites: Isabel erkrankt schwer und kann nicht mehr unterrichten. Ray arbeitet hart, um allein den notwendigen Lebensunterhalt bestreiten zu können und kommt beruflich in Kontakt zu einem jungen Mädchen (Leah). Alice Munro erzählt eine Geschichte von drei Personen und lässt uns im unklaren, ob es je eine „Dreiecksgeschichte“ wird, ob das überhaupt das „Thema“ dieser Geschichte ist. Mal erwarten wir einen solchen Verlauf und dann erhalten wir wieder gegenteilige Signale, die uns glauben machen, es seien eher unsere klischeegefütterten Vorstellungen, die uns einen solchen Verlauf annehmen ließen.

Schließlich befindet sich Isabel in einem komaähnlichen Zustand. Im Text heißt es: „Sie können ruhig nach Hause gehen“, wurde ihm gesagt. Man würde ihn informieren, sobald eine Veränderung eintrat. Das leuchtete ein. Er hatte nicht nur alle ihm zustehende Zeit in den Angehörigenzimmern aufgebraucht, sondern auch mehr als den ihm zustehenden Urlaub … Alles sprach dafür, dorthin zurückzukehren. Stattdessen blieb er in der Stadt.“

Was für eine (emotionale) Kraft steckt in diesem „Stattdessen blieb er in der Stadt.“ Später heißt es: „Eine ganze Zeit hatte er sie einmal am Tag besucht. Dann ging er jeden zweiten Tag zu ihr. Dann zwei Mal in der Woche.“ Wir erfahren nicht genau, was in Rays Innerem passiert, wie sich Liebe und Pflichtgefühl und vielleicht auch Abhängigkeit in ihm zueinander verhalten, sein Handeln bestimmen, aber so ist es eben – wir können anderen Menschen nicht in den Kopf schauen und es ist vielleicht gut, wenn uns literarische Texte gelegentlich daran erinnern.

Es gibt in diesem Text nur zwei szenische Darstellungen und beide geben Begegnungen zwischen Ray und Leah wieder. In der zweiten begegnen sich Ray und Leah zufällig im Krankenhaus – und dann stirbt Isabel und Ray ist von diesem Tod vollkommen erschüttert. „Gar nicht lange, und er fand sich draußen auf der Straße wieder, tat so, als hätte er einen ebenso normalen und guten Grund wie alle anderen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Was er mit sich trug, alles, was er mit sich trug, war ein Mangel, etwas wie ein Mangel Luft, am korrekten Funktionieren seiner Lunge, eine Beschwernis, die wahrscheinlich nie aufhören würde.“

Kann man die existenzielle Dimension eines Verlustes anschaulicher machen?

Wer über literarische Texte, über Figuren redet, redet meist auch über Gefühle. Darüber, ob das Geschilderte nachzuvollziehen ist oder nicht. Ob es uns berührt und wie sehr. Manchmal ist es schwierig, über Gefühle zu reden, weil wir dann eben auch immer über uns, über einen möglicherweise sehr persönlichen Bereich unserer selbst reden, aber wenn wir es vermeiden, blenden wir eine Dimension des Textes aus, die mitentscheidet, wie unser Urteil über einen Text ausfällt.

4 Kommentare

  1. Liebe Jutta,
    wunderbar formuliert – ich möchte sagen: in diesem Text steckt auch eine Menge Gefühl, so die Liebe zum Schreiben. Wie Du dies an der Erzählung von Alice Munro festmachst, klasse – ich lese sie gerade deswegen gerne, weil sie eine Meisterin darin ist, Gefühlsgrundlagen zu schaffen, ohne diese konkret zu benennen, unterschwellig eine Melodie sozusagen einzuarbeiten. Auch wenn ich gestehen muss, dass ihre Grundmelodie, diese leichte Melancholie, in größeren Mengen auf mich auch bedrückend wirkt. Aber wie gesagt: Man weiß, was ihre Figuren bewegt, ohne daß es ausgesprochen wird – und somit ist keine ihrer Geschichten ohne Seele.

  2. Mich hat überrascht, dass dieser Aspekt so wenig Raum eingenommen hat in den Kommentaren und Berichten. Wer Munro nicht kannte, musste ja eher denken, es handele sich um eine Lektüre, die eher unbeschwert zu genießen wäre …

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