24. Wie lernen wir andere Menschen kennen – oder die Figuren in Geschichten?

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in der Straßenbahn. Während sie damit beschäftigt sind, Ihre Zeitung, ein Buch oder das Smartphone aus der Tasche zu kramen, wandert Ihr Blick über die anderen Fahrgäste hinweg. Für einen kurzen Moment verharrt er bei einem jungen Mann. Sie haben gerade begonnen, eine E-Mail oder einen Kommentar zu lesen, da spricht der junge Mann Sie an.

Offenbar würden Sie sich für ihn interessieren und da wäre er gerne mit ein paar Informationen zu seinem Leben, seiner Biographie behilflich. Irritiert sehen Sie sich um, aber niemand nimmt von Ihnen Notiz und so erzählt Ihnen der junge Mann von seiner Kindheit in einem Dorf nahe der niederländischen Grenze, von den Konflikten mit den beiden älteren Schwestern und auch davon, dass er schon als Jungendlicher zu trinken begann. Für einen Moment denken Sie an einen schlechten Scherz, an versteckte Filmaufnahmen oder an die Möglichkeit, dass Sie irgendein vollkommen falsches Signal ausgesendet haben, ohne es zu bemerken.

Warum erzählt mir dieser Typ, den ich überhaupt nicht kenne, seine ganze verdammte Lebensgeschichte?, werden Sie sich fragen und versuchen, dieser Situation zu entkommen. Was wir im realen Leben nicht mögen, mögen wir in aller Regel auch nicht in der fiktiven Welt der Literatur: mit Informationen über Figuren zugeschüttet werden, die wir noch gar nicht kennengelernt haben. Es ist, vor allem, eine Frage der Reihenfolge: Erst muss sich in mir ein Interesse, eine Neugier entwickeln, muss irgendetwas geschehen – und dann möchte ich unter Umständen gerne mehr erfahren, jemanden besser kennenlernen.

Aber wie lernen wir Menschen kennen? Vor allem ja dadurch, dass wir sie erleben. Wie sie sich bei der Arbeit verhalten oder im Fußballstadion oder bei einem Museumsbesuchs. Viel wichtiger als die Informationen aus ihrer Vergangenheit ist für uns in der Regel, wie sie sich verhalten. Ob sie viel reden oder kaum etwas sagen. Ob sie am liebsten über ihre eigenen Witze lachen. Wir interessieren uns dafür, ob jemand schnell beleidigt ist, immer etwas besser weiß, schnell unzufrieden ist. Ob jemand oft oder fast nie guter Laune ist. Eine sympathische Ausstrahlung hat. Schnell zu überreden ist, hilfsbereit ist, eigensinnig.

All das und viel mehr interessiert uns, wenn wir andere Menschen kennenlernen. Und es gibt Situationen, in denen wir Menschen schneller und besser kennenzulernen können, als das in anderen Situationen der Fall ist. Situationen, in denen jemand unter Stress steht. Oder unsicher ist. Oder jemandem sehr gerne gefallen möchte. Situationen, in denen jemand sich bemüht, alles richtig zu machen oder in die Nähe einer Peinlichkeit gerät. Situationen, die vollkommen alltäglich scheinen, durch die dann aber etwas „durchschimmert“: ein Geheimnis oder etwas Vergangenes oder ein Tagtraum.

Wenn wir unsere Figuren „vorstellen“, dann sollten wir nach solchen Situationen, einer solchen Szenen, Ausschau halten. In denen die Leser:innen die Chance haben, die Figuren kennenzulernen. Nicht indem wir erzählen, dass jemand so oder so ist und dass das Gründe hat, die wir ungefragt mitliefern. (Und wie immer – auch diese Frage könnte einmal die „normale“ Lektüre begleiten: Was erfahren wir wann über die Figuren in welchen Texten?)

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