Wie haben Autorinnen und Autoren Geschichten geschrieben, als es noch keine Plotmodelle gab?

Vorweg: Ich bin überzeugt, dass es Autorinnen und Autoren gibt, die in ihrer Arbeit von „Plots“ und den entsprechenden Modellen (Heldenreise, Sieben-Stufen-Plot, usw.) profitieren. Ich glaube, dass uns das Nachdenken darüber, was in unseren Texten wann passiert und ob es dafür einen guten Grund gibt, immer weiterhilft. Stephen King (und eben nicht, sagen wir: Genazino) schreibt dazu in einem Beitrag für den „Guardian“:

I won’t try to convince you that I’ve never plotted any more than I’d try to convince you that I’ve never told a lie, but I do both as infrequently as possible. I distrust plot for two reasons: first, because our lives are largely plotless, even when you add in all our reasonable precautions and careful planning; and second, because I believe plotting and the spontaneity of real creation aren’t compatible.

Das dürfte ein kleine Überraschung für diejenigen sein, die den Versprechen der „Plotter“-Fraktion so unbedingten Glauben schenken, dass sie das Schreiben ohne diese Modelle für unmöglich halten. Es gäbe diesen Beitrag nicht, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass die angeblich so hilfreichen Plotmodelle häufig in die Irre führen. Schon oft habe ich erlebt, dass die vorhandenen Stärken eines Textes nicht gesehen wurden und stattdessen (krampfhaft) Wendpunkte gesucht und konstruiert wurden oder Konflikte in eine Eskalation getrieben wurden, die nicht nachvollziehbar oder glaubwürdig waren.

Jetzt ließe sich einwenden: Da werden die Modelle eben falsch angewendet und das ist sicherlich nicht vollkommen von der Hand zu weisen. Aber das Entscheidende scheint mir: Wer die Modelle gut und richtig anwenden kann, der benötigt sie gar nicht mehr, weil sich das, was das Modell „fordert“ aus unseren Vorstellungen einer „guten Geschichte“ von selbst ergibt:

Gibt es keine „überraschenden Wendungen“ in einer Geschichte, wird sie vorhersehbar und also langweilig. Auch ohne jedes Modell wissen wir um die Notwendigkeit von komplexen und originellen Figuren, Schauplätzen und Handlungsverläufen und um die Möglichkeiten, Spannung zu erzeugen. Und warum ist es dann trotzdem so schwierig? Weil wir uns originelle Figuren und überraschende Handlungsabläufe nicht „mal eben so“ ausdenken und dann auf Papier bringen können. Weil wir unsere Phantasie trainieren und unser Urteilsvermögen  schärfen müssen. Für beides brauchen wir Zeit und detaillierte wie konstruktive Rückmeldungen.

Und wenn sie uns dann tatsächlich gelingt, die „gute“, „starke“ Geschichte, dann könnte man sie, bei näherer Betrachtung, vielleicht für das Ergebnis einer „Masterplot“-Anwendung halten. Aber die wenigsten Autorinnen und Autoren haben beim Schreiben auf Plot-Modelle zurückgegriffen, die Reihenfolge war umgekehrt: Anhand einer Vielzahl von einzigartigen Geschichten wurden Modelle gebildet, die Gemeinsamkeiten beschreiben.  Deswegen sind wir meistens schon auf einem ziemlich guten Weg, wenn wir alles daransetzen, eine „starke“ Geschichte zu schreiben und die Plotmodelle nicht als „Regelwerke“ ansehen, sondern als Einladung über einzelne Bausteine unserer Texte nachzudenken.

3 Kommentare

  1. Oh endlich sagt mir jemand, dass Plot nicht alles ist. Und dass das Zitat von King kommt, überrascht mich tatsächlich.
    Ich z.B. liebe eigentlich nur die „langweiligen“ Geschichten, die sich nicht vor lauter neuen Wendungen nur so überschlagen.
    In seinen früheren Texten, den kurzen (Regenschirm usw.) war für mich Genazino DER Geschichten-Erzähler. Wer richtig hinsieht und scharf beobachtet, braucht sich keine besondere Wendung ausdenken, es ist immer alles schon da. Genazino „zeichnet“ sehr oft mit Wörtern.

  2. Ich mag ja beides: Die wunderbaren Texte von Genazino (der ja nicht zufällig sehr viel über das Sehen und insbesondere über den „gedehnten Blick“) geschrieben hat und anderen Autor:innen, die uns vor allem mit ihrem Ton, ihren Beobachtungen, ihren Figuren oder ihrem hintergründigen Humor begeistern – und aber auch diejenigen, die uns vor allem eine „gute Geschichte“ erzählen.
    Und dass uns selbst da, wo wir „gute“ (spannende, unterhaltsame, berührende) Geschichten schreiben wollen, Plotmodelle im Weg sein können oder uns ablenken können, von den tatsächlichen Stärken oder Schwächen unserer Texte – das ist eine Erfahrung, die ich schon öfter in Werkstätten gemacht habe und dafür Stephen King als „Kronzeugen“ gefunden zu haben, ist natürlich ein toller Coup 🙂
    Aber schon seit längerem denke ich: Allerhöchste Zeit mal über Genazino zu schreiben – ich danke dir sehr, dass du mich daran erinnert hast!

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