Alice Munro nicht zu kennen, muss niemandem peinlich sein. So, wie es niemandem peinlich sein muss, irgendwelche anderen Autorinnen oder Autoren nicht zu kennen. Als Literaturkritiker oder Autor sollte man sie hingegen schon kennen – und zwar nicht nur dem Namen nach.
Wenn man allerdings Alice Munro als Literaturkritiker oder Autor nicht kennt, dann darf einem das ruhig ein bisschen peinlich sein – aber man muss es ja nicht verraten. Man könnte versuchen, das Thema zu umgehen, man könnte sich mit unbestimmten Floskeln hindurchlavieren, aber wie kann man nur auf die Idee kommen, diese Unkenntnis hinauszutrompeten, als verriete sie irgendetwas über die prämierte Autorin, über die Qualität ihrer Texte?
Alice Munro ist eine wunderbare Autorin und wer lernen möchte, Geschichten zu schreiben, kann sich kaum eine bessere Lektüre aussuchen. Mit Sorgfalt und Genauigkeit entwickelt und zeichnet Munro Figuren und Entwicklungen und zieht uns in die Welten ihrer Protagonistinnen. Oft sind es Frauen, die viel Energie und Mühe auf den Versuch verwenden, ein gutes, ein glückliches Leben zu führen. Und dann passiert etwas …
Für diejenigen, die versuchen, ihren Blick für Geschichten zu schärfen und sich jetzt in die Munro-Lektüre stürzen: Was genau „passiert“ in den Geschichten? In welcher Schwierigkeit befinden sich die Figuren und wie erfahren wir davon? Welchen Zeitraum umspannen die Texte? Und für diejenigen, die schon etwas länger dabei sind: In welchem Verhältnis stehen „erzählerische“ Passagen und „szenische“ – und warum gelingen diese Texte „trotzdem“ so wunderbar;-)