(11): Ich erinnere mich …


„Ich erinnere mich …“ ist einer meiner liebsten Schreibimpulse. Ich schätze ihn für mein eigenes Schreiben, aber es gibt vermutlich auch keine Anregung, die ich schon öfter in Werkstätten verwendet habe. Übernommen habe ich sie von Siri Hustvedt, die in Die zitternde Frau erzählt, wie sie selbst dazu gekommen ist: „In meinem Schreibkurs mit Psychiatriepatienten habe ich oft ein Buch des Dichters und bildenden Künstlers Joe Barnard mit dem Titel I Remember verwendet. Dieses schmale, aber ungewöhnliche Büchlein ist ein Katalog der Erinnerungen des Autors. Jeder Eintrag beginnt mit den Worten „Ich erinnere mich“:

‚Ich erinnere mich, dass ich nie vor anderen geweint habe.
Ich erinnere mich, wie verlegen ich war, wenn andere Kinder weinten.

Ich erinnere mich, wie ich anfing zu rauchen. Ich schrieb meinen Eltern einen Brief und erzählte es ihnen. Der Brief wurde nie erwähnt, und ich rauchte weiter.“

Aber auch Siri Hustvedt nutzt sie offenbar für sich selbst, denn sie schreibt über diese Übung: „Wenn ich den Satz beginne, weiß ich meistens nicht, wie ich ihn beenden werde, aber sobald ich die Worte ich erinnere mich zu Papier gebracht habe, taucht irgendein Gedankeauf. Und in Das schreibende Selbst und der Patient in der Psychiatrie heißt es: „Wieder und wieder Ich erinnere mich zu schreiben, heizt eine Erinnerungsmaschine an.“

Wie bei so vielen der hier vorgestellten Anregungen braucht es manchmal ein paar Versuche, um in das Drauflos-Schreiben zu kommen, das hier ja unbedingt gewollt ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das manchen Teilnehmer:innen leichter fällt, wenn es (zunächst) eine thematische Begrenzung gibt und die Erinnerungen auf Sonntage, oder Ferien, Sommerhitze oder Winterkälte oder die Kindheit beschränkt bleiben.

Manchmal schreckt der Wiederholunscharakter der Übung Teilnehmer:innen ab, insbesondere solche, die in der Schule gelernt haben, dass Wiederholungen grundsätzlich ein Fehler sind. Aber  das ist leider nur die halbe Wahrheit: Es gibt fehlerhafte Wiederholungen, die eine stilistische Schwäche darstellen und daher bei der Überarbeitung eines Textes korrigiert werden sollen, aber es gibt auch Wiederholungen, die ganz im Gegenteil ein gewolltes Stilmittel sind. Das trifft auf die gewollten Wiederholungen von Ich erinnere mich nicht automatisch und in jedem Fall zu, aber erstaunlich oft ist das der Fall.

Weil sich manche Teilnehmer:innen schwer tun, mir mehr als ihren (womöglich schon lange verstorbenen Lehrer:innen zu glauben), verweise ich an dieser Stelle regelmäßig auf Eugen Ruges Cabo de Gato, dessen ersten Satz ich ja auch hier in weiser Voraussicht bereits für die Ersten Sätze ausgewählt hatte: „Ich erinnere mich, wie ich innehielt, mitten in der Bewegung.“ Nicht nur der erste Satz des Buches beginnt so, sondern sehr viele Absätze, gerade in den ersten Kapiteln, was die literarische Kraft des Textes nicht mindert, sondern stärkt – und was überdies ein schönes Beispiel dafür ist, dass selbst diese sehr autobiographisch wirkende Schreibanregung, auch für die Erinnerungen einer fiktiven Figur, auch für die Arbeit an einem fiktionalen Text verwendet werdet kann.

Und weil sich zum Ende der zweiten Woche der Virtuellen Schreibwerkstatt  einiges zu fügen beginnt, eignet sich die Schreibanregung natürlich auch ganz hervorragend für ein kleines Schreibprojekt, bei dem Ich erinnere mich das verbindende Element ist …

Ich freue mich auf Eure Erfahrungen, auf Text(ausschnitte), auf Fragen! Am Montag gehts hier weiter mit ein paar grundsätzlichen Überlegungen zu der Virtuellen Schreibwerkstatt und ein paar konkreten Tipps, wie das Weiterschreiben gelingen kann.

Achtet gut auf Euch und andere!

14 Kommentare

  1. Danke für die Anregung, die mich nicht nur zum Schreiben sondern auch dazu verleitet, die zitternde Frau noch einmal zu lesen. Da das Buch in meinem Bücherregal steht, ist es kein Problem. ((Das Buch von Roland Barthes ist leider noch nicht bei mir angekommen, obwohl es in der Buchhandlung vorhanden ist. Schade das mein Buchhändler nicht direkt ausliefert, sondern nur über seinen Webshop. Die alphabetische Liste habe ich begonnen, wenn auch variiert, auf mein Schreibprojekt bezogen)) Liebe Grüße Eva

  2. In der letzten Sommerakademie hatte mich das schon inspiriert und ich hatte auf diese Art Erinnerungen aus der Schulzeit gesammelt, die ich dann bei einem Klassentreffen vorgelesen habe. Das fand sehr großen Zuspruch. Zu jeder Erinnerung hatten einige der ehemaligen Mitschüler*innen etwas beizutragen. Und alle waren dann immer sehr gespannt auf die nächste
    Erinnerung. Das war sehr unterhaltsam und wir hatten großen Spaß dabei. Kann das sehr weiterempfehlen! Sehr gut gefällt mir auch das Ping Pong Schreiben. Werde das in meiner Schreibgruppe auf jeden Fall anregen.
    Danke Jutta, ich freu mich jeden Morgen auf die neue Anregung und sonnige Grüße! Margret

    1. Liebe Margret, stimmt, das hatte ich schon wieder vergessen! Das ist wirklich auch eine schöne Möglichkeit bei Festen aller Art miteinander ins Gespräch zu kommen (oder für eine Rede eine Struktur zu finden). Und vielen Dank auch für die freundliche Rückmeldung!

  3. Eine wunderbare Übung. Die werde ich auch bald machen und mich erinnert das ganze an „Autobiographie einer Heizung“ von Knarf Rellöm. Er hat diese Übung sozusagen vertont und mich haben seine Erinnerungen an seine Jugend in Norddeutschland schon als junger Mensch sehr fasziniert: https://www.youtube.com/watch?v=RMSAC4x0Ep4
    Wer es noch nicht kennt: unbedingt anhören!

  4. Liebe Jutta, das war so ganz nach meinem Geschmack. Und hier kommt mein Text, zumindest in Auszügen 🙂

    Ich erinnere mich an taunasse Wiesen, auf denen wir barfuß zwischen Gänseblümchen entlang hüpften. Taumelnd drehten wir uns im Kreise unter der aufgehenden Sonne und ließen Pusteblumen zu den Wolken steigen.

    Ich erinnere mich an Hände, die mich über Wellen hoben, sicher hielten, auch wenn das Wasser an meinen Beinen leckte. Salzkrusten bedeckten unsere Haut und ich schüttete mir Sand über den Kopf, um später mit den kleinen Körnchen auf meiner Haut zu spielen.

    Ich erinnere mich an Schnee, in den ich Schneeengel warf, Schneefrauen mit dicken Brüsten, davor mein lachender Vater noch mit schwarzem Bart. Ich trage Blumenketten, meine Mutter wirbelt mich jauchzend durch den Sommerwind.

    Ich erinnere mich an Schlittenfahrten, an Kopftücher, Wollmützen und kratzende Strumpfhosen – auch im Sommer, ich war ein kränkelndes Kind. Kleine Strohkörbchen trug ich, die waren mit Schoko-Eiern gefüllt. Der Geschmack von Berliner Weiße liegt auf meiner Zunge, ebenso wie Milchmädchen und geschlagenes Eigelb mit Zucker in Orangensaft.

    Ich erinnere mich an tote Forellenaugen und Eingeweide, die ich stolz dem Großvater präsentierte, an zahlreiche Mückenstiche, die ich aufkratzte. An das kalte Wasser des Sees, das über mir zusammen schlug, Zählreime und Gummitwist.

    Ich erinnere mich an Bücher, die ich nachts heimlich unter der Bettdecke las, an Hanni und Nanni, Dolly, die schwarze Sieben und fünf Freunde, die mich in den Schlaf und durch meine Träume begleiteten. Erste Gedichte, Tagebücher voller Gedanken, Geschichten, die ich erdachte. Einträge in Zeugnissen, die mich stolz machten und meine Eltern verzweifeln ließen.

    Ich erinnere mich an den ersten Kuss, scheu auf die Wange gehaucht, an die feuchte Hand in meiner, an Schmetterlinge im Bauch und Träume im Kopf und natürlich auch an die unendlichen Stürze, die mich immer wieder aufstehen ließen.

    Ich erinnere mich an durchtanzte Nächte, Frühstück im Morgengrauen, endlose Gespräche über Jungs und Probleme, an Pickel und den ersten Besuch beim Frauenarzt. An selbstgestrickte Socken und Pullover, Friedendemos, selbstgedrehte Zigaretten und an das Gefühl, unendlich erwachsen zu sein.

    Ich erinnere mich an Liebe, die ich nicht hinterfragte. Ich war ein Sommerkind, das Glück war mir treu.

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