(10) Stilübungen (nach Raymond Queneau)

Es ist eine phantastisches, ein verrücktes Buch, das der französische Autor Raymond Queneau (1903-1976) unter dem Originaltitel Exercices de Style 1947 vorlegte. Ausgehend von einer einzigen kurzen Begebenheit, entwirft Queneau sage und schreibe 99 Variationen! Dies ist der Ausgangstext:

„Angaben

Im Autobus der Linie S, zur Hauptverkehrszeit. Ein Kerl von etwa sechsundzwanzig Jahren, weicher Hut mit Kordel anstelle des Bandes, zu langer Hals, als hätte man daran gezogen. Leute steigen aus. Der in Frage stehende Kerl ist über seinen Nachbarn erbost. Er wirft ihm vor, ihn jedesmal, wenn jemand vorbeikommt, anzurempeln. Weinerlicher Ton, der bösartig klingen soll. Als er einen leeren Platz sieht, stürzt er sich darauf.
Zwei Stunden später sehe ich ihn an der Cour de Rome, vor der Gare Saint-Lazare, wieder. Er ist mit einem Kameraden zusammen, der zu ihm sagt: „Du solltest dir noch einen Knopf an deinen Überzieher nähen lassen.“ Er zeigt ihm wo (am Ausschnitt) und warum.“

Der Reiz des Unterfangens liegt also keineswegs in diesem ein bisschen seltsamen Ausgangstext, sondern in dem, was alles aus ihm wird. Ein Haiku zum Beispiel (1947!):

S und langer Hals
Fußtritt Schrei und Rückzug
Bahnhof Knopf Bewegung

oder ein Sonett, das so anfängt:

„Mit langem Hals ein jämmerlicher Schemen,
von Hut geflochten und von Schnauze kahl,
bequemte sich zur täglich neuen Qual,
den meistens voll besetzten Bus zu nehmen.“

oder Beleidigend, mit diesem Anfang: „Nach einem saumäßigen Warten unter einer schändlichen Sonne stieg ich endlich in einen unsauberen Autobus, in dem eine Bande Arschlöcher zusammengepfercht stand. Das größte Arschloch unter diesen Arschlöchern …“

Es ist eine große Freude diesen Text zu lesen und ich habe mich vor vielen Jahren selbst davon zu einer kleinen Serie inspirieren lassen. Mein Ausgangstext war dieser:

„Da stoppte mich etwas mitten in der Bewegung, das weiter in der Tiefe stattfand. Zumindest der Schmerz, der fand in der Tiefe, fand im rechten Schienbein statt. Aber das Besondere, das wohl Entscheidende passierte weiter oben: An irgendeiner Stelle rebellierte mein Körper gegen diese immer wiederkehrenden Attacken.
Es war ein Allerweltsfoul, tausend mal erlebt von den Niederungen der E-Jugend an, lautstark gefordert von ganzen Tribünen voller Trainer, die meine Gegenspieler mein Fußballerleben lang angebrüllt hatten „dran bleiben“, „geh drauf“, „stell ihn“ und eben auch „hau ihn um“. Und obwohl ich nie ernsthaft verletzt wurde, war ich dieser Grätschen, Sensen und Tacklings auf einmal überdrüssig, vermochte sie nicht mehr als Teil des Ganzen zu begreifen.
Und so nahm ich den Ball, der ins Seitenaus gerollt war und mir von einem sehr jungen, beflissenen Balljungen entgegengestreckt wurde und warf ihn meinem Gegenspieler zu. „Dann nimm ihn doch einfach“, sagte ich zu ihm, „wenn du ihn so unbedingt haben willst, dann nimm ihn doch einfach“, und verließ das Spielfeld.“

Es war ein Text, den ich in einer Schreibwerkstatt zu dem vorgegebenen Anfang „Da stoppte mich etwas in der Bewegung …“ geschrieben hatte und ich habe hier auf dem Blog einige meiner Variationen veröffentlicht: Da stoppte mich etwas

Als Anregung für mögliche Varianten hier einige der Titel Queneaus aus dem Inhaltsverzeichnis: Verdoppelung, Metaphorisch, Rückwärts, Traum, Genauigkeit, Die subjektive Seite, Negativitäten, Amtlicher Brief, Klappentext, Lautmalereien, Ausrufe, Philosophisch, Mathematisch, Preziös, Unverhofft.

Für diejenigen, die Lust haben, das auszuprobieren: Ich glaube, es ist eine gute Idee als Ausgangstext etwas auszuwählen, das sich als „kleine Begebenheit“ bezeichnen lässt. Eine Situation, in der etwas geschieht, das ein wenig rätselhaft, skurril, merkwürdig erscheint.

Ich freue mich auf Versuche, Fragen, Erfahrungsberichte!

Nachtrag (03.April 2020) Erst durch den Kommentar von Myriade zu der geglückten Übersetzung, fiel mir auf, dass ich die Übersetzer (meiner Ausgabe von 1968) nicht erwähnt hatte: Ludwig Harig und Eugen Hemlé. Interessanterweise gibt es eine neue Übersetzung für eine Neuauflage, die bei Suhrkamp 2016 erschienen ist und von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt wurde. Sowohl die Übersetzung als auch die Gestaltung des Buches wurde mit Preisen ausgezeichnet – hier gibt es einen Videoclip des Verlags mit den beiden Übersetzern:

16 Kommentare

  1. Da kann ich mich Flumsi nur anschließen ! Ich finde auch eine Anregung besser als die andere. Und wenn es dann auch noch Gelegenheit gibt das alles auszuprobieren. Eine wahre Freude !

    1. Ich finde sie auch sehr gut und hatte ganz vergessen, die Übersetzer zu erwähnen. Habe ich auf Grund deines Hinweises nachholen wollen und dabei bemerkt, dass es eine neue Übersetzung gibt – mein Nachtrag ist daher etwas länger geworden und umfasst auch einen ganz netten Videoclip der beiden „Neu-Übersetzer“ …

    1. Gefällt mir auch sehr – und es ist (passenderweise!) eine Variation der Variation, denn du hast den Ausgangstext ja oft gelassen, wie er war und dann ganz unterschiedlich „weitergeschrieben“., Solltest du Lust haben, diesen Impuls nochmal aufzugreifen, könntest du auch einen anderen (vielleicht zwei, drei Zeilen längeren) Ausgangstext nehmen und diesen nochmals „durchvariieren“. Eine Moritat sollte aber unbedingt dabei sein 😉

      1. Ja, das mache ich bestimmt. In diesem Fall hatte ich es so eilig, die Variationen auszuprobieren, dass der Ausgangstext etwas dürftig ausgefallen ist. 🙂

Ich freue mich über Kommentare!

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