(7) Erste kleine Schreibprojekte entwickeln

Nur ganz ausnahmsweise schreiben in meinen Werkstätten alle Teilnehmer:innen zu der selben Anregung. Das liegt vor allem an der simplen Tatsache, dass sie sich in so vielem unterscheiden: in ihren Erfahrungen und Wünschen, in dem, was sie gerade beschäftigt, in den Texten, die sie gerne lesen und eben auch in dem, was ihre Schreibfreude auslöst. Manche Teilnehmer:innen lieben es, wenn Schreib-Anregungen den Charakter einer „Challenge“ annehmen, wenn es viele Vorgaben (z. B. Reizwörter) gibt, während andere sich genau davon schnell eingeschränkt fühlen und offenere Anregungen favorisieren – z. B. den ersten Satz von Herta Müller: „Es ist Samstagnachmittag.“

Weil die Teilnehmer:innen so unterschiedlich sind und weil ich Schreib-Anregungen immer nur als „Überbrückungskabel“ verstehe, können sich alle aussuchen, was für sie passt oder es für sich passend machen. Diese Vorgehensweise hat einen wichtigen Nebeneffekt: Die Verantwortung für den Schreibprozess bleibt bei den Teilnehmer:innen. Das ist nicht ganz so selbstverständlich, wie es klingt, den bei manchen Lernprozessen liegt die Verantwortung ja tatsächlich zumindest zunächst vor allem bei den Lehrer:innen. Wenn ich ein Instrument lerne, gehe ich davon aus, das die Lehrer:in vorgibt, in welcher Reihenfolge ich was zu üben habe. Zumindest am Anfang.

Beim Schreiben ist das anders, jedenfalls kommt es mir so vor – vielleicht, weil wir ja schon mit viel Mühe und Aufwand gelernt haben zu lesen und zu schreiben. Die Menschen, die Schreibwerkstätten aufsuchen oder entsprechende Ratgeber kaufen, wollen nicht schreiben lernen, sondern sie wollen mehr schreiben und/oder „besser“ schreiben. Ich kann das sehr gut verstehen, denn ich habe mich selbst viele Jahre mit genau diesen beiden Wünsche rumgeplagt. Und auch mir haben die Schreibratgeber, die sich in meinen Regalen stapelten und die sporadischen Besuche von Schreibworkshops nicht nennenswert weitergeholfen, so wie es vielen ergangen ist, die bei mir „gelandet“ sind.

Das, was ich in großspurigen Momenten „meinen Ansatz“ nenne, ist aus dem jahrelangen Nachdenken darüber entstanden, was mir selbst und was den Teilnehmer:innen meiner Werkstätten tatsächlich weitergeholfen hat. Weil wir uns alle unterscheiden (s.o.), sind auch die Wege unterschiedlich, die wir jeweils zurückgelegt haben – und die Ziele. Und dennoch gibt es natürlich auch Ähnlichkeiten, Übereinstimmungen, Erkenntnisse.

Eine davon ist, wie wichtig und zugleich wie schwierig es für viele ist, überhaupt einmal in eine kreative Haltung hineinzufinden. Neugierig zu werden. Lust am Ausprobieren und Experimentieren zu entwickeln. Etwas „nur so“ schreiben, ohne dass daraus ein fertiger, vorzeigbarer Text werden muss. Mit der Selbstverständlichkeit, mit der bildende Künstler:innen Skizzen anlegen, kleine Notizen zu machen.

Natürlich freue ich mich, wenn in meinen Werkstätten „gute“ Texte entstehen, aber noch mehr freue ich mich, wenn Teilnehmer:innen in dem gerade beschriebenen Sinn mutiger werden, neue Erfahrungen machen, etwas ausprobieren, was ihnen zunächst abwegig vorkam – so wie es auch manche von Euch hier schon beschrieben haben.

Auch eine kleine Serie zu schreiben bedeutet nicht, dass es jetzt allmählich „ernst“ wird – ganz im Gegenteil. Auch das Entwickeln eines kleinen Schreibprojektes soll das Schreiben nicht schwerer, nicht anstrengender machen: Weiterschreiben ist oft leichter als anfangen. Und kleine Schreibprojekte zu beenden und sie eventuell (vielleicht „nur“ für eine/n selbst) in eine schöne Form bringen, kann zu dem beitragen, was ja das Ziel der meisten ist: Jemand werden, die/der schreibt.

Auch diese „Serien“ sind nicht für jede/n etwas. Ihr müsst selbst herausfinden, ob und in welcher Form das für Euch passt. Ein paar konkrete Tipps werde ich hier in dieser Woche dazu geben, aber auch die sind wieder nur als „Überbrückungskabel“ gedacht. Die wichtigste Frage, die Ihr Euch stellen solltet: Was hat Euch in der vergangenen Woche (oder überhaupt in der Vergangenheit) schreibend am meisten Spaß gemacht? Oder Euch gereizt? Vielleicht habt Ihr noch immer keine Figur, die in Schwierigkeiten steckt, aber Ihr hättet gerne ein? Dann könnte das eine Serie sein: Eine Figur in (drei bis fünf) unterschiedliche Schwierigkeiten bringen. Oder fünf Figuren?

Wenn Euch das Daily Diary von Lynda Barry gefallen hat: Macht diese Woche jeden Tag eins.

Oder Ihr macht etwas ganz anderes, wie meine Schriftsteller-Kollegin Bettina Beutler-Prahm, der ich das schöne Beitrags-Foto zu verdanken habe: Bettina hatte letzte Woche dieses Video von Austin Kleon gesehen – und ihre ganz eigene Serie daraus gemacht.

https://youtu.be/ab4O9SWNl9g

Wie immer bin ich sehr gespannt auf Eure Ideen, Erfahrungen, Fragen.

28 Kommentare

  1. Guten Morgen Jutta, vielen Dank für Tag 7 🙂 Ich selber schreibe am liebsten nach Wort- oder Satzimpulsen und da ist mir heute der Satz von Herta Müller „Es ist Samstag nachmittag“ ins Auge gefallen. So kam mir die Idee, dass ich mich jeden Morgen in dieser Woche von diesem Satz inspirieren lassen möchte und mal sehe, was mir dazu für unterschiedliche Dinge einfallen (und ich hoffe, ich habe die Anregung bzw. deinen Beitrag richtig verstanden?). Heute floss ein kleines Gedicht dazu aus meinen Fingern….

    es ist samstag nachmittag …

    leere kaffeebecher stehen
    auf abgeblätterten tischen
    buschrosen wippen im wind
    der gartenzaun knarrt
    die teller sind blank
    der kuchen längst gegessen
    die menschen verstummt
    ich sitz allein am fenster
    die alte eiche verliert ihre blätter
    und die amsel singt ihr lied …

    Dir einen wunderschönen Tag und ich freue mich jeden Tag auf deine Beiträge. Ganz lieben Dank und liebe Grüße, Sabine

  2. Liebe Jutta, letzte Woche habe ich die Zeit (mit meinem Draußen-Zwang) überwiegend im sonnigen Garten verbracht. Bin so dankbar jetzt allein lebend einen Garten zu haben. Deine Anregungen haben mir trotzdem sehr gut getan. Hatte nicht jeden Tag Zeit sie umzusetzen aber Sonntag, bei dem schlechten Wetter, hab ich die ersten fünf Anregungen alle in einer einzigen Geschichte untergebracht. Quasi zur ersten Quarantäne Woche. Das Tagebuch nach Lynda Barry habe ich auch begonnen und stelle fest, dass es mich sehr inspiriert. Eine schöne Ablenkung. Danke und gute Wünsche in dieser seltsamen Zeit! Margret

  3. Liebe Jutta, mein Nachdenken über deine Texte zu den Tagen 6 und 7 hat mich einen längeren Text über meine Schreiberfahrungen der bisher längsten (in Etappen entstandenen) größeren Geschichte produzieren lassen: meinen Wassermaler. Ich würde mich freuen, wenn du Zeit hättest, zum Lesen und Senf-dazu-Geben vorbeizukommen.
    Liebe Grüße
    Christiane

    https://365tageasatzaday.wordpress.com/2020/04/17/figuren-erfinden-und-ihnen-raum-geben-schreiben-bei-jutta-reichelt-tag-6-7/

    1. Liebe Christiane, wie in allen guten Texten spiegelt sich in deinem Bericht das Allgemeine im Konkretem – denn wir erfahren ja nicht nur etwas über dich und wie du den Wassermaler erfunden hast, sondern zugleich sehr vieles über den kreativen (Schreib)-Prozess. Was mir besonders gefällt, ist deine Beschreibung der zeitlichen Dimension, der einzelnen Etappen, in denen die Geschichte vom Wassermaler entstanden ist. Und was ich auch sehr wichtig finde: wie aufmerksam du für deine Vorlieben oder Abneigungen bist, den Schreibprozess betreffend. Zu berücksichtigen, dass dir die Recherche so viel Freude bereitet hat, kann es dir erleichtern zukünftige Schreibprojekte so zu entwickeln, dass du nicht die Lust verlierst – z. B. indem du Orte, Themen, Erfahrungen einbaust, die dich interessieren, über die du gerne mehr wüsstest … (Ich glaube, ich schreibe da bald mal drüber 😉 Liebe Grüße!

    1. Liebe Alice, es geht ja mit dem Schreiben selten (eigentlich nie) im immer gleichen Tempo voran – und jetzt sind wirklich besonders spezielle Zeiten, in denen das nc viel mehr gilt. Schön, dass dir das Schreiben jetzt wieder Freude macht! Liebe Grüße Jutta

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