Tag 5: Jeder Text ist ein neues Wagnis

Welche Kompetenzen oder Fähigkeiten benötigen Menschen, die schreiben möchten? Phantasie vermutlich und ein gewisses sprachliches Ausdrucksvermögen. Ausdauer? Mut? Ist Originalität in Phantasie schon mitenthalten oder ist das etwas anderes? Und braucht man nicht auch so etwas wie Frustrationstoleranz? Was ist mit der Fähigkeit, in großen Bögen, in Zusammenhängen zu denken? Ein Ende zu finden? Einfühlungsvermögen und Menschenkenntnis wird hier und da womöglich auch benötigt.

Wer ein bißchen über das Schreiben und die Fähigkeiten, die es dazu braucht, nachdenkt, wird schnell feststellen, dass die Vorstellung von dem einen Talent gleich in mehrfacher Hinsicht der komplexen Angelegenheit nicht gerecht wird. In The Talent of the Room, einem der klügsten Texte über das Schreiben, die ich kenne, konzentriert sich der amerikanische Autor Michael Ventura auf einen oft übersehenen Aspekt, wenn es ums Schreiben geht: Das „Talent“ sehr viel Zeit allein mit sich und dem entstehenden Text in einem Zimmer zu verbringen. Aber warum fällt das vielen Menschen überhaupt schwer?

Michael Ventura schreibt: „The room, you see, is a dangerous place. Not in itself, but because you’re dangerous. The psyche is dangerous. Because working with words is not like working with color or sound or stone or movement. Color and sound and stone and movement are all around us, they are natural elements, they’ve always been I the universe, and those who work with them are servants of these timeless materials. But words are pure creations of the human psyche. Every single word is full of secrets, full of associations. Every word leads to another and another and another, down and down, through passages of dark and light. Every single word leads, in this way, to the same destination: your soul. Which is, in part, the soul of everyone. Every word has the capacity to start that journey. And once you’re on it, there is no knowing what will happen.“

Wenn wir schreiben, sind wir auf eine ganz besondere Weise mit uns selbst beschäftigt – ohne direkt mit uns selbst beschäftigt zu sein. Das ist reizvoll, aber es bedeutet immer auch ein Wagnis: Hinter jeder Ecke, hinter jedem neuen Satz könnte etwas auftauchen, dem wir manchmal lieber aus dem Weg gehen – wir selbst.

Ich habe die Erfahrung gemacht (mit meinem eigenen Schreiben, aber auch in der Begleitung anderer), dass Texte oft eine andere Tiefe und Qualität erreichen, wenn wir in ihnen einen künstlerischen Ausdruck finden für das, was uns „umtreibt“. Wenn wir uns auf die Suche gemacht haben nach den Geschichten, die nur wir erzählen können, vielleicht müssen.

Aber wie finden wir das heraus? Offenbar nicht allein durch nachdenken. Ich hatte schon kürzlich die schöne Beobachtung von Siri Hustvedt zitiert: „Schreiben ist meistens unbewusst. Ich weiß nicht, woher die Sätze kommen. Wenn es gut läuft, weiß ich es weniger, als wenn es schlecht läuft.“ Sich auf diesen Prozess einzulassen, offen und neugierig „Sätze kommen zu lassen“, ist für manche eine große Herausforderung. Weil das so ist und weil der innere Zensor nie allzu weit entfernt ist, gibt es eine Reihe von Techniken, die den Zugang zu den tieferen Schichten unseres Selbst erleichtern sollen: Von Julia Cameron Morgenseiten bis zu den zahlreichen Varianten Automatischen Schreibens (der Wikipedia-Eintrag über Écriture automatique gibt darüber Auskunft).

Heute möchte ich Euch zum Ausprobieren eine relativ „extreme Variante“ vorschlagen, nämlich fünf Minuten zu schreiben, ohne den Stift abzusetzen, ohne aufzuhören. Wirklich alles aufschreiben, was in den Sinn kommt – auch, wenn es unsinnig oder belanglos ist oder nicht mehr als der Ärger über diese saublöde Übung. Und wie bei der Schreibanregung Daily Diary von Lynda Barry  lohnt es sich, die Übung ein paar Mal zu machen, um herauszufinden, ob sie für eine/n etwas sein könnte.

Ach ja, man sollte diese Übung wirklich mit Stift und Papier ausführen. Und es ist die einzige, bei der die entstandenen Texte anschließend in meinen „normalen“ Werkstätten nicht vorgestellt werden – und das soll auch hier so sein. Aber wer möchte, kann einen Satz oder ein Wort aus dem Text auswählen  und als ersten Satz für einen neuen Text verwenden (und diesen dann hier vorstellen).

Noch mehr als bei den anderen Schreibanregungen interessiert mich heute, welche Erfahrungen ihr damit macht. Beim Schreiben geht es ja immer um beides: um den Prozess und um das Ergebnis und wir sind eher gewohnt, nur auf das Ergebnis zu schauen. Aber um bestimmte Ergebnisse zu erzielen, müsse wir uns auch für den Entstehungprozess interessieren und deswegen nimmt der Austausch über den Schreibprozess in meinen Werkstätten recht großen Raum ein.

Es würde mich freuen, wenn wir auch hier in dieser Virtuellen Werkstatt darüber ins  Gespräch kommen würden und Ihr von Euren Erfahrungen mit dieser oder auch den anderen Schreibanregungen berichten würdet. Was fiel euch leicht, was war schwierig? Was könntet Ihr Euch vorstellen, nochmal zu probieren? Was versteht ihr nicht? Was wünscht Ihr Euch?

34 Kommentare

  1. Liebe Jutta,
    vieles, ja fast alles (1) von dem, was du schreibst ist auch auf die bildende Kunst übertragbar.
    So könnte ich mich heute an der Übung beteiligen, in dem ich fünf Minuten zeichne, ohne den Stift tatsächlich auch physikalisch gesehen, abzusetzen. 🙂 Es gibt eine Reihe von Bildern von Picasso in dieser Art!
    Viel Freude beim Schreiben und Liebe Grüße von Susanne

    1. Vielen Dank für diesen schönen Hinweis! Das werde ich nachher mal ausprobieren. Aber jetzt schreibe ich erstmal selbst drauflos 😉 Liebe Grüße und einen möglichst guten Tag!

  2. Liebe Jutta, dieser Raumtext war ja wirklich etwas Besonderes. Danke für diesen Tipp und natürlich auch für diesen des fünfminütigen Schreibens. Ich habe es sofort umgesetzt, kannte es noch aus vergangenen Jahren in denen ich die Morgenseiten immer mal schrieb. Heute nahm ich noch einmal wahr, dass eine Problematik darin besteht, dass die Gedanken schneller als der Stift sind. Heißt ich stand mit dem Stift noch am Gartenzaun um dem Nachbarskind auf Abstand zum Geburtstag zu gratulieren, war in Gedanken aber schon beim Einkauf. Die Frage ob man selbiges mal mit einer audio Aufnahme versuchen könnte. Und wie sich das dann vom Geschriebenen unterscheidet. Dein Schreibprojekt ist Klasse. Vielen, vielen Dank für dieses tolle Angebot auf das ich mich täglich freue.

    1. Liebe Xeniana, vielen Dank für diese schöne Rückmeldung – ich freue mich sehr darüber! (Auch das ist ja ein Unterschied zu „normalen“ Werkstätten, dass ich nicht sehen kann, ob alle gut ins Schreiben gefunden haben oder genervt den Raum verlassen oder mir vielleicht einen hilfesuchenden Blick zuwerfen 😉 Und ja, das kenne ich auch: Dass mir das Schreiben zu langsam ist.Oder dass ich gerne zwei oder drei Sätzen parallel nachginge, was ja noch unmöglicher ist. Aber umgekehrt bietet es auch die Möglichkeit, mal nur so langsam zu denken, wie man schreiben kann. Für mich wäre es, wenn ich eine Aufnahme machen würde, Wirkich etwas ganz anderes. Ich werde nächste Woche eine Anregung vorstellen, bei der ich vielleicht noch etwas genauer darauf eingehen werde, warum diese Übertragung von der Hand aufs Papier eine wichtige Rolle spielt. Mal sehen 😉

  3. Liebe Jutta,
    das, was Du schreibst trifft voll meine Nerv als bildender Künstler, weil gerade dort genau diese Fragen die sind, die einen tragen. Es geht um die eigene Seele. Und was Deine bisher vorgeschlagenen Techniken anbelangt: sie lassen sich auch, in modifizierter Form auch auf uns Zeichner, Drucker und Maler und die Art wie wir arbeiten übertragen. Ich weiß, das ich oft so unterwegs bin, gerade dann, wenn ich nicht genau weiß, wie es gehen soll. Ich nenne es dann spielen: ich spiele mit methodischen Ansätzen herum, sie liefern Ergebnisse und ich bin auf dem Weg.
    Liebe Grüße, mal wieder vom Frühstückstisch, bleib gesund,
    Juergen

    1. Lieber Jürgen, ich mache die Erfahrung dieser großen Ähnlichkeit auch immer wieder. Und ich bin überzeugt, dass Menschen, die in einem künstlerischen Bereich die Bedeutung von Experimentierfreude, von „Spielen“ (ja, genau!) erfahren haben, sich viel leichter tun, wenn sie einen Ausflug in eine andere künstlerische Sparte unternehmen. Allein schon das Wissen (oder die tiefe Erfahrung) dass es am Anfang überhaupt nicht auf „gut“ oder „schlecht“ (was immer das heißen mag) ankommt. Liebe Grüße zurück – gerade noch vom Schreibtisch, aber schon fast auf dem Sprung in den Garten

  4. Liebe Jutta, auch ich kenne das – dieses Schreiben am Stück, ohne den Stift abzusetzen. Und ja, auch ich habe das heute praktiziert – allerdings werde ich diesen Text nicht veröffentlichen (besser ist das 🙂 ). Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass da auf einmal ganz andere Gedanke, oder auch Gefühle fließen und sich das Schreiben in eine Richtung entwickelt, die von mir gar nicht beabsichtigt war. Für mich immer sehr spannend und aufschlussreich.
    Von mir übrigens auch einen großen Dank an dich – mir macht es viel Freude hier dabei zu sein. Liebe Grüße Sabine

  5. Liebe Jutta, ich habe dieses (morgendliche) Schreiben nach Zeit schon mal regelmäßig angewandt und dann wieder aus den Augen verloren. Für mich ist es eine sehr intuitive Schreiberfahrung, in der es mir viel leichter gelingt, den inneren Kritiker auszuladen als bei anderen Schreibanregungen, die eher auf Dialoge oder Handlung abzielen. Mir sagt es deshalb mehr zu, als beispielsweise mit Satzanfängen zu starten. Und es ist gerade jetzt eine schöne Möglichkeit, auch sorgenvolle Gedanken loszuwerden. Also gerne mehr davon!

    1. Liebe Sara, das freut mich! Und das „mehr davon“ nehme ich gerne auf – und gebe es zugleich „zurück“. Denn eigentlich geht es mir immer am Anfang einer Werkstatt vor allem darum, dass möglichst viele ins Schreiben finden, auf eine halbwegs mühelose Art. Bei dir hört es sich so an, als wenn dieses Drauflos-Schreiben etwas wäre, dass du vielleicht für eine Weile (vielleicht die nächste Woche?) wieder aufnehmen könntest? Es spricht dann ja nichts dagegen, auch noch etwas anderes zu versuchen … Was meinst du?

      1. Da hast du wohl Recht! Das werde ich vielleicht ganz genauso tun und dann schauen, welche Anregungen oder Herausforderungen vielleicht noch dazu dazu kommen. Danke!

  6. Sehr interessant finde ich die Betrachtungen über das „Material“ des Schreibers. Es ist zweifellos ein sehr kluger Text, von jemandem, der weiß wovon er spricht. Er hat aber auch viel Schwere. Ja, Disziplin und die Mühen der Ebene, aber an eine dauerhafte Freude am Schreiben scheint er nicht zu glauben. Aber ja, vielleicht ist das so, ich kann es ja nicht wirklich beurteilen.

    Ich habe mich an einem 5-Minuten-Text geübt, der nicht allzu persönlich ist aber doch spontan entstanden ist. https://laparoleaetedonneealhomme.wordpress.com/2020/03/26/soll-ich-oder-doch-nicht/

    1. Das ist interessant, ich habe das nicht so empfunden, obwohl ich, jetzt wo ich von deinem Eindruck der „Schwere“ lese, verstehe, was du meinst. Für mich ist es (mittlerweile) umgekehrt: Ich glaube, dass ich nicht zuletzt deswegen Schriftstellerin geworden bin, weil mir das die Möglichkeit gibt, viel Zeit allein am Schreibtisch zu verbringen – aber das konnte ich eigentlich noch nicht, als ich beschloss, es zu werden … Vieles beim Schreiben lässt sich nur als Paradoxie beschreiben.

      1. Diese Art von Fragen zum Thema Schreiben habe ich mir bisher nicht gestellt, finde sie aber sehr überlegenswert und wahrscheinlich auch konstruktiv. Ich freue mich sehr über diese Schreibwerkstatt !

    1. Vielen Dank für diesen interessanten Bericht aus deiner persönlichen Schreibwerkstatt! Ich versuche auch gerade mal wieder mir das Tippen mit zehn Fingern beizubringen, weil ich es manchmal so großartig fände, wenn ich schneller schreiben könnte. Und ich kann auch sehr gut nachvollziehen, was du über die anderen Aspekte geschrieben hast – das ist bei mir ähnlich.

  7. Liebe Jutta, fünf Minuten sind ganz schön lang und ganz schön kurz. Lang, weil ich schnell schreibe und nach der Hälfte der Zeit (ungefähr, das Handy war bewusst außer Sichtweite) die Finger anfingen, weh zu tun. Ganz schön wenig, weil ich gegen Ende so richtig in den Fluss kam und auch noch eine Weile weiterassoziieren hätte können.
    Ich habe über diese Technik schon im therapeutischen Bereich gelesen und da gehören die Ergebnisse auch wirklich hin. Es kommt sehr viel an die Oberfläche, was einen umtreibt und wovon man kaum ahnt, dass es einen umtreibt. Allerdings beeinflussen gerade die vergrabenen Gedanken und Emotionen ja auch das, worüber und wie wir darüber schreiben.
    Ich werde es wieder tun, es vielleicht in das Kaffee-Kippen-Morgenritual einbauen.
    Liebe Grüße
    Alice

    1. Vielen Dank, dass du deine Erfahrung mit uns teilst – und ja, es erstaunt mich auch immer wieder, wie lang die fünf Minuten bei dieser Übung sind und wie schnell sie uns doch sonst verrinnen …

    1. Liebe Christiane, ich habe sowohl deinen Erfahrungsbericht als auch die Kommentare sehr, sehr gerne gelesen und möchte dir nur in einem einzigen, winzigen Detail widersprechen: Du bist weder weit noch nah an dem vorbeigeschlittert, was ich mit der Anregung im Sinn hatte – du bist direkt im Zentrum gelandet 😉 Denn darum gehts doch immer wieder: etwas Neues ausprobieren, aufmerksam dafür sein oder werden, was andere Ideen, andere Schreibweisen, andere Routinen für Veränderungen hervorrufen – und mehr Auseinandersetzung mit all diesen Themen, als du in und nach diesen fünf Minuten geführt hast, ist ja nur schwer vorstellbar. Aber natürlich ist mir auch klar worauf du damit anspielst: Auf die Geschichten, die darauf warten, von genau dir erzählt zu werden. Vielleicht findest du sie auf diesem Weg (na klar, dieses Drauflos-Schreiben muss man dann ein bisschen öfter ausprobieren), vielleicht auf einem anderen – das wird sich zeigen. Ich bin mir allerdings ziemlich sicher, dass du sie finden wirst, wenn du weiter so mutig neue Wege ausprobierst 😉 Allerbeste Ostergrüße!

Ich freue mich über Kommentare!

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