Kurzer Versuch über die Notwendigkeit literarischer Texte

Warum diese Geschichte und nicht eine andere? Sehr lebhaftes Gefühl, dass ich bei den meisten gängigen Romanen und Filmen habe, selbst den guten; deprimierendes Gefühl: Das ist „gut“, doch ich sehe nicht die Notwendigkeit, das zu erzählen, so ungeheure Mühe aufzuwenden, um das herzustellen“, schreibt Roland Barthes in „Die Vorbereitung des Romans“ und eine Seite weiter: „Einerseits gibt es keine NOTWENDIGKEIT, andererseits sieht sich der Schriftsteller – derjenige, der liest oder schreiben will -, ohne dass er sich dem entziehen könnte, dazu aufgerufen, das Geschriebene als Notwendigkeit zu fundieren oder (als auctor) zu garantieren (2008, S. 300, Wiedergabe wie im Original).

Wer nicht schreibt, könnte denken, zumindest die subjektive Notwendigkeit eines Textes für die Autorin, für den Autor ließe sich mittels Entschlusses herbeiführen: Ab heute schreibe ich nur noch, was mir notwendig erscheint! Oder: Neben dem kommerziellen Quatsch, den ich wochentags schreibe, wird von nun an am Sonntag nur noch Notwendiges geschrieben!
Vielleicht gibt es Autorinnen, Autoren, die das können, denen das gelingt. Was mir viel vertrauter ist: Dass auch die Notwendigkeit zu den Aspekten des Schreibens gehört, nach denen wir suchen (müssen), die nicht einfach „da“ ist.

Ich habe Texte geschrieben, von denen ich hoffte, dass sie „gut“ wären oder jedenfalls Stationen wären auf dem Weg zu „guten“ Texten und habe mir über „Notwendigkeit“ keine Gedanken gemacht. Ich habe Texte geschrieben, deren Notwendigkeit für mich nicht lesbar war. Später dann Texte, die Rettungsringe waren für die Person, die ich tatsächlich war – Texte, deren Notwendigkeit jede literarische Freiheit verdrängte und die mir aber zeigten, welche Texte darauf warten, von mir erzählt zu werden. Und nun bilde ich mir ein, dass sie zumindest gelegentlich gelingt – die Balance zwischen innerer Notwendigkeit und der spielerischen Freiheit, es immer auch anders machen (erzählen) zu können. Und ich bin überzeugt, dass diese immer wieder anders ausfallende Balance die Voraussetzung dafür ist, dass sich auch der Leserin, dem Leser Räume öffnen …

Auch zu der Interaktion von Autor und Leser findet sich bei Roland Barthes ein schöner Gedanke: „Wer schreibt, vermag sich in das Gefühl des potentiellen Lesers zu projezieren und kann schreiben, als ob zumindest ein Leser diesen Text brauchte. Die NOTWENDIGKEIT eines Werkes läge dann darin, dass es dem Bedürfnis eines Lesers irgendwo entspricht.“ (a.a.O. S. 302)

11 Kommentare

  1. Liebe Jutta, das ist ein sehr anregender Text, über den ich sicher weiter nachdenken werde. Spontan dachte ich: Wirklich notwendig (im Sinne eines Leben-und-Tod-Szenario) dürfte kaum ein literarischer Text sein. Mir fällt tatsächlich keiner ein, viele hingegen, die (aus Leserperspektive) eine Not gewendet haben, also irgendwie not-wendig waren. Das mag dem Gedanken von Barthes nahekommen, die Notwendigkeit eines Werks liege darin begründet, dass es dem Bedürfnis zumindest eines Lesers entspricht. Immer noch spontan bin ich allerdings nicht sicher, ob es des Kriteriums der Notwendigkeit dann überhaupt bedarf. Wenn ein Leser reicht (den wird es noch bei dem unsäglichsten Schund immer geben), ist damit nichts gewonnen. Ich liebäugele stattdessen mit dem Gesichtspunkt der Wesentlichkeit. Liebe Grüße!

    1. Liebe Maren, ich danke dir sehr für deine Überlegung, die mich heute den Tag über immer mal wieder beschäftigt hat! Ich möchte dir schon deswegen zustimmen, weil mir die „Es geht hier um Leben und Tod“-Behauptung manches Autors, mancher Autorin in unseren Breitengraden doch eher aufgesetzt vorkommt. Vor allem all denen gegenüber, deren Schreiben und/oder Leben tatsächlich und sehr ernsthaft bedroht sind. Und dann gefällt es mir auch, etwas Luft aus den ganz großen Worten zu lassen – insofern stimme ich dir aus vollem Herzen zu! Und weiß andererseits, dass es manchmal mehr braucht, um die „Not zu wenden“, als Wesentlichkeit. Aber mir gefällt noch keiner der Sätze, die mir dazu einfallen – das ist alles noch zu verschwurbelt, nebulös, raunend. Falls es klarer werden sollte, schreibe ich drüber 😉 Herzliche Grüße!

  2. An der ‚Notwendigkeit Texte zu schreiben‘ krebse ich ehrlich gesagt herum…
    Das liegt vielleicht daran, dass ich erst einmal aus dem unbedingten Gefühl heraus schreibe, etwas festhalten zu wollen. Dies erst einmal für mich selbst, weil dieses Gefühl ein schönes und reiches ist. Ich verwende Sorgfalt auf den Text, behandele ihn wie etwas Wertvolles, das ich achte und mag, bewahren will. Natürlich steckt auch Ehrgeiz darin, vor allem, wenn ich mich mit Lyrikformen beschäftige, die Vorgaben folgen. Gefällt mir das Ergebnis, entlasse ich es in die Öffentlichkeit. Liest oder mag es jemand oder sagt mir, was ich noch besser machen könnte, ist das konstruktives Feedback, das auf mich wie ein Motor wirkt. Lese ich etwas, das mich stilistisch beeindruckt, ist das Schulung und Lernen. Das tägliche Schreiben geschieht also doch aus einer Art Notwendigkeit heraus, die allerdings nicht zwanghaft ist, sondern eher ein Bedürfnis, das um Befriedigung bittet.
    Liebe Grüße✨

    1. Ich finde die „Notwendigkeit“ auch einen sperrigen und zudem „großen“ Begriff. Das reicht bei mir normalerweise, um einen Bogen darum zu machen. Aber an der „Notwendigkeit“ komme ich nicht so recht vorbei – was sicherlich mit meiner eigenen „Schreibentwicklung“ zu tun hat, aber auch mit meinen Leseerfahrungen. Und da kann ich dem überaus geschätzten Roland Barthes nur zustimmen, machmal merke ich bei der Lektüre, dass ein Text aus einer großen Beliebigkeit heraus entstanden ist – und mag ihn schon deswegen nicht lesen. Aber das ist natürlich alles schwer konkret zu fassen … Was mir allerdings sehr gut gefällt, ist deine schöne Formulierung „eine Notwendigkeit, die nicht zwanghaft ist, sondern ein Bedürfnis, das um Befriedigung bittet“ – so ist es 😉 Herzliche Grüße!

      1. Notwendigkeit ist ein sperriges Wort. Das baute sich erst einmal vor mir auf und wollte alles mögliche sein. Da musste ich mich erst einmal schreibend herantasten. Noch während ich am Kommentar schrieb, begann die Notwendigkeit zu schreiben sich zu differenzieren und als ich am Ende des Kommentars angelangt war, war es kein sperriges Wort mehr, sondern nur noch eines, das umschreibenden Charakter hatte. Manche Texte wirken auf mich, als hätte jemand dem Kopf zu viel Macht darin überlassen. Sie wirken wie Konstrukte aus Buchstaben. Andere wirken auf mich, wie Herr Barthes sagt: aus einer großen Beliebigkeit heraus geschrieben. Ich würde es wohl so nennen: Da schrieb wer ohne den Motor der großen Lust zu schreiben. Das ist das Wort, durch das ich für mich die ‚Notwendigkeit‘ ersetzen würde, um ihr die Sperrigkeit wegzunehmen, den sachlichen Charakter und den Pragmatismus. Stattdessen beschreibe ich das Gefühl von Lust und der Freude, wenn man schreibt und dabei staunt, weil eine Entwicklung dabei stattfindet, als zeichne man ein Bild, dessen Strukturen vielleicht erahnbar sind, das jedoch seine Komplexität und Feinheit erst erhält, wenn man sich von der Notwendigkeit es zeichnen zu müssen vollständig ablöst und sich dem Gefühl der Lust überlässt, mit all der technischen Erfahrung, die man automatisiert hat, drauflos zu zeichnen, ohne jedoch konkret zu wissen, wie das fertige Bild am Ende aussehen könnte. Es könnte auch misslingen und so kommt bei aller Lust, die Sorgfalt ins Spiel und ergänzt werden kann am Ende immer noch. Ich habe keinen Text geschrieben, den ich ‚perfekt‘ finde, mit Ausnahme einiger weniger Gedichte, die strengen Formvorgaben folgten. Doch an den Geschichten arbeite ich manchmal noch nach Jahren und finde sie irgendwo verbesserungswürdig. Und das empfinde ich als ’notwendig‘ und bin am Ende dieses langen Kommentars über die Lust zu schreiben an der Notwendigkeit es zu entwickeln und vollenden zu wollen, angelangt.
        So ist das mit den großen Begriffen…man macht sie sich berührbar, bis sie passen.
        Schreibentwicklung?
        Ich danke Dir! Du wirfst oft so spannende Fragen und Themen auf.
        Es macht Spaß, darüber nachzudenken.
        Liebe Grüße✨

        1. Ich bin jetzt gerade sehr begeistert, wie viele neue Facetten und Richtungen die „Notwendigkeit“ für mich erhält, angesichts der klugen Kommentare und Überlegungen, die ich hier vorfinde. Und lande immer wieder bei der (nicht wahnsinnig überraschenden 😉 Feststellung, dass es einfach nichts gibt, was für alle Texte, alle Autor:innen gelten würde – und gleichzeitig scheint mir die Feststellung manchmal sehr klar auf der Hand zu liegen: genau diesem Text fehlt es Notwendigkeit oder an Spannung oder an Abgründigkeit oder xy. Vermutlich ist es tatsächlich auch in diesem Bereich so, dass der Text den Rahmen, innerhalb dessen er „bestehen“ soll, selbst vorgibt.
          Vielen Dank für diesen mein Denken wirklich sehr bereichernden Kommentar!

  3. Ein sehr ambivalentes Thema. Was ist diese Notwendigkeit?
    Für den Autor/ Gestalter/ oder den Rezipienten?
    Was legen wir uns alle nur Pläne zurecht um es uns oder den anderen recht zu machen. Und dann gestaltet es !
    Ist es dann falsch? So als ob alles nur nach Plan funktionieren kann. Ob Picasso Guernica nach Plan gemalt hat? Cendrars Auf allen Meeren nach Plan geschrieben? Viele Fragen tun sich mir da auf und von der Notwendigkeit des richtigen bis zum unnötigen falschen ist da alles dabei. Die Entscheidung zu Malen / zu Schreiben mag für den einen oder anderen eine Intellektuelle sein. Wie Butter kaufen oder Garage fegen. Ob die Ergebnisse dabei etwas mit dem Herzen zu tun haben wage ich dennoch manchmal zu bezweifeln. Das schöne dabei: die Welt ist so groß und verträgt viele Sätze. Ob Notwendig oder auch nicht.
    Subjektiv alle mal.

    1. Ich habe das gerade schon in die Antwort an @karfunkelfee geschrieben – wie sehr mich Eure Antworten in meinem eigenen Nachdenken zum Thema bereichern. Da ist manches wieder neu in Bewegung geraten oder mir in seiner Komplexität nochmals klarer geworden, dafür danke ich sehr und grüße herzlich!

Ich freue mich über Kommentare!

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