Gerne wäre ich eine, die offen und vorurteilslos Texte liest und ohne Ansehen der äusseren Umstände (Kenntnisse über Autor, Autorin, Rezensionen, Erwartungen usw.) zu einem Leseeindruck, zu einem Urteil kommt. Und oft bin ich auch so eine.
Aber manchmal auch nicht. Und dann ist mein Zugang zu einem Text aus manchmal vollkommen albernen Gründen verbaut oder erschwert. Leider ändert diese Erkenntnis (wie es manchmal mit Erkenntnissen so ist) überhaupt nichts. Eine Lektüre beginnt, bei der ich versuche, meine Miesepetrigkeit zu ignorieren – aber welcher Text kann sich schon dagegen behaupten? Eugen Ruges „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ist das zuletzt gelungen. Ich bin mir nicht sicher, welche Laus mir da über die Lese-Leber gelaufen war, vielleicht der ständige Hinweis auf die „Buddenbrocks“. (Was doppelt unsinnig ist, weil ich die „Buddenbrocks“ in guter Lese-Erinnerung habe.)
Ähnlich absurd fand ich selbst, dass mir der Zugang zu Wolfgang Herrndorf nicht glücken mochte. Immer wieder nahm ich „Tschick“ in die Hand, auch „Sand“, immer wieder (das machte es sicherlich nicht besser!) wurde ich äusserst nachdrücklich zur Lektüre aufgefordert (WAS? DAS hast du nicht gelesen?). Die Lage war verfahren und ich rechnete damit, dass aus Hermsdorf und mir nichts mehr werden würde – was ich allerdings vermutlich nicht hier so leichthin in die Welt posaunt hätte (WAS, du willst den auch in Zukunft NICHT lesen?), wenn sich heute morgen nicht dieses kleine Sonntagswunder ereignet hätte:
Ich schlug nämlich die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung auf und las dort:
„Mir ist es peinlich, auf der Straße die Richtung zu ändern, wenn ich etwas vergessen habe. Ich wechsle vorher mindestens die Straßenseite oder binde mir die Schuhe neu, bevor ich umkehren kann. Schwer zu beschreiben, warum. Ich glaube, es gibt Leute, die kennen das. Und es gibt Leute, die kennen das nicht, und denen kann man es dann auch nicht erklären. Es hat irgendetwas mit Scham zu tun.“
Ich bin vollkommen begeistert und wenn nicht urheberrechtliche Gründe dagegen stünden, dann würde ich hier die nächsten zwei Stunden damit zubringen, diesen Textauszug vollständig abzutippen, der auf eine wunderbare Weise komisch und traurig und klug zugleich ist. Wir werden doch noch Freunde, Wolfgang Herrndorf und ich – ich bin mir sicher!
Der Text in der FAS ist ein leicht gekürzter Auszug aus der in diesen Tagen erscheinenden Gesamtausgabe von Wolfgang Herrndorf, Rowohlt Berlin, drei Bände, 1840 Seiten)
Hach das kann ich so gut nachvollziehen, „Tschick“ war für mich einfach Unterhaltung aber nix spezielles oder besonderes, wobei sein Blog, den fand ich toll. “In Zeiten des abnehmenden Lichts” konnte ich auch gar nicht leiden…ein regelrecht tristes Buch fand ich…dabei wäre da echt genug gewesen für eine gute Geschichte.
.. nur so mein Senf dazu, Lieben Gruß
Den Blog habe ich leider erst entdeckt, als er wegen der Erkrankung Herrndorfs in aller Munde war – was ich dann schwierig fand. Den Ruge hingegen fand ich gut und was ich aber vor allem mag, ist dein „Senf“! Ich glaube, manches wäre einfacher, wenn wir für möglich hielten, dass es auch mal „nur“ Senf sein könnte, den wir von uns geben … Liebe Grüße!
Danke liebtse Jutta für das Lächeln… wohl wahr 😉
😉
Liebe Jutta, wie sehr ich dir doch danke, für diesen Beitrag! Ich gestehe zuerst gleich mal insgesamt beschämt, dass ich weder Eugen Ruge noch Wolfgang Herrndorf kenne 😦
Aber wenn mir einfällt, dass ich etwas vergessen habe, da sehe ich mindestens grundlos auf die Uhr, ehe ich umkehre oder betrachte kurz etwas in einem Schaufenster, wenn gerade eins da ist 🙂
(Und übrigens muss ich bei jedem Einkaufszettel, der zurückgelassen in einem Einkaufskorb liegt, an dich denken 🙂 )
Herzlichst,
Marlis
Liebe Marlis, du bist also auch so eine 😉 Ich habe schon in meiner Tasche gekramt und so getan, als hätte ich gerade bemerkt, dass ich etwas vergessen habe … Und dass du bei jedem zurückgelassenen Einkaufszettel an mich denkst, das freut mich! Sehr herzliche Grüße!
ich mache auch alles mögliche – nur nicht auf dem Absatz kehrt…
Bis heute morgen habe ich für möglich gehalten, dass ich der einzige Mensch auf der Welt wäre …
Liebe Jutta,
nur allzu menschlich, wenn wir nicht bei jedem Text objektiv über allem schweben. Bei einem umjubelten Texte stellt sich ohnehin die Frage, warum so viele ihn mögen. Wenn wir das nicht tun, fühlen wir uns im Abseits. Das will keiner. Auch nicht auf der Straße, den Stom unterbrechend.
Und noch ein bisschen Küchen-Psychologie einer sich gerade im Streik befindenden Erzieherin: Wenn mich ein ansich gut geschriebener Text abstößt, stellt sich natürlich wie immer die Frage nach Grund und eigenem Anteil.
Leider kann ich negative öffentliche Präsenz und die Arbeit auch schlecht trennen, bin nicht objektiv genug. Ich erinnere mich an ein Inteview im NDR, in dem ich Katja Riemann als sehr unangenehm und arrogant empfunden habe. Ich mochte lange keine Filme mehr mit ihr sehen.
Ja! Bei Schauspieler:innen kenne ich das auch! Bei manchen schalte ich schnell weg, wenn ich sie irgendwo im Interview sehe – wenn ich sie sehr gerne sehe … Hatte ich schon mal erwähnt, dass es kaum eine größere Anhängerin der Küchenpsychologie gibt als mich? Sehr herzliche Sonntagsgrüße!
Liebe Jutta,
das Problem kenne ich – und deshalb habe ich den Ruge auch bis heute nicht gelesen, obwohl er irgendwo hier rumlungert, ich komme einfach nicht rein, irgendwie sträubt es sich.
Beim Herrndorf war es anders. Den Tschick habe ich als knackige, gut geschriebene Unterhaltung sehr gerne gelesen, vielleicht auch, weil ich Roadmovies gerne mag.
Ich habe mich dann auf seine älteren Titel gestürzt und war total enttäuscht. Langweilig, trist, ja, so in etwa. Und dann bin ich natürlich auf seinen Blog gestossen, habe den nicht gelesen, weil es mir ein bisschen komisch damit war (obwohl ich sehr sehr gut verstehen kann, dass man eine Plattform für sein Lebens- und Sterbethema braucht). Aber als das Ding nach seinem Tod als Buch herauskam habe ich in der Buchhandlung reingelesen und bin quasi lesend und mit Buch wieder rausgelaufen und konnte nicht aufhören, bis ich es zu Ende hatte. Sand habe ich übrigens bis heute nicht gelesen, obwohl es ja vielgelobt wurde. Irgendwie kam mir die Idee so trostlos vor. Aber man weiss ja nie…
Liebe Grüsse
Kai
Lieber Kai, das ist toll, dass ich hier mühelos Gelegenheit finde, dir für den Cyrulnik-Hinweis zu danken! Was für ein großartiges Buch! Ich lese so begeistert, wie du es von deiner „Arbeit und Struktur“-Lektüre beschreibst.Ich habe schon zahlreiche (für mich neue) Hinweise auf Themen gefunden, die mich schon lange begleiten und beschäftigen. (Und was du zu Herrndorf schreibst, ging mir sehr ähnlich – nur dass mir für Tschick diese Road-Movie-Zuneigung fehlt;-) Großer Dank und liebe Grüße!
Witzig. Weil ich just dieser Tage was mit einer weiteren Literatur Bloggerin ( näheres wird noch nicht verraten) in der Pipeline habe zu dem Thema: unbefangen bzw. Unbeeinflusst lesen – geht das? Du nimmst ein Teil des Themas vorweg. Herrndorf ist für mich auch so ein Beispiel : Bislang nicht rangetraut – erst hat der Hype um Tschik mir den Blick resp. Zugang versperrt, dann sein Schicksal.
Liebe Birgit, stimmt – unbefangen trifft es eigentlich besser! Bei Herrndorf ging es mir ähnlich wie dir, wobei ich sowieso sehr selten Zugang zu Jugendbüchern finde – bei Kinderbüchern ist es wieder anders … Und: da bin ich natürlich schon gespannt, was ihr ausbrütet 😉
Diese zitierte Selbstbeobachtung von Herrndorf ist sehr schön, auch wenn ich nicht zu denen zähle, die solche Scham befällt. Manche Schamlosigkeit kann ich ja heute auf mein Alter schieben (eine Alterserscheinung von nicht wenigen, die ich sehr schätze), doch weder meine Vergesslichkeit (sehr gering bei mir) noch meine gnadenlos egozentrische literarische Selektion waren mir je unangenehm. Eugen Ruge las ich damals in der Buchhandlung skeptisch an (Literaturpreis und verschrobener Titel), doch die ersten Seiten trafen einen (autobiografischen) Nerv bei mir, so dass ich es letztlich auch begeistert las. Bei Herrndorf war ich anders befangen. Der Titel und das „Gedöns“ bis zur Taschenbuchausgabe war mir zwar zu „Faserland“. Doch dann dachte ich, ist ja kurz und knapp, kann man mal lesen. Aber nach den ersten 10 Seiten war mir klar, dass mich das Buch nicht überraschen, anregen noch nachdenklich machen wird. So blieb es auf dem Stapel im Laden. Und Herrndorf wird mir nun wohl ebenso fremd bleiben, wie die Buddenbrooks (Dr. Faustus las ich gern), Bulgakow, Jonathan Franzen, Philip Roth Günter Grass oder Joyce. Dafür verstehen andere nicht, dass ich dankbar bin, vieles von Henry Miller, Thomas Bernhard, den ganzen Proust (nur auf Deutsch), Hermann Hesse, Canetti oder Markus Werner gelesen zu haben oder aktuell Stephan Thome sehr schätze.
Zwei Sachen gefallen mir an deinem Kommentar ganz besonders (vielen Dank dafür!): der Zusatz bei Proust („nur auf deutsch“) – man hört ja gelegentlich Menschen sagen, dass sie eigens 10 Jahre französisch gelernt hätten, um dann ihre lebenslange Proust-Lektüre aufzunehmen und wie viele Überschneidungen und Unterschiede es gleichzeitig zwischen uns gibt. Vor allem: Markus Werner! Was für ein toller Autor! Viele Grüße!
Lieber Emil, bin gerade auf dem Sprung, möchte mich aber unbedingt noch schnell bedanken – habe deinen Beitrag sehr gerne gelesen!
Ich hatte ihn hier als Kommentar begonnen, dann doch zum Stift gegriffen und erstmal runtergeschriebe, was da kam.
Ich habe nun in den Kommentaren viele neue Namen gelesen, bei manchen auch genickt.
Ah ja, unbefangen: Unbefangen kann ich nur die ersten Zeilen eines Buches lesen …
In „fremden“ Kommentarfenstern haben bei mir auch achon mehrere Blog-Beiträge ihren Anfang genommen … Viele Grüße!