Die Geschichten (er)finden, die nur wir erzählen können

In der letzten Zeit gab es viele – sehr unterschiedliche – Gründe und Anlässe für mich über mein Schreiben nachzudenken. Ich war überrascht, wie klar und übersichtlich mir auf einmal schien, was viele Jahre ein unentwirrbares Knäuel aus Gedanken, Überzeugungen und diffusen Ahnungen war:

Heute glaube ich, dass nichts so wichtig ist, wie „unsere eigenen Geschichten zu (er)finden“. Ich glaube, dass wir so etwas wie einen individuellen, literarischen Fingeradbruck entwickeln müssen, in den alles einfließt, was wir je erlebt und gelesen und geschrieben haben. All unsere Albträume und Ängste und Besorgnisse und unsere enttäuschten Hoffnungen. Und vor allem unsere Fragen. Unsere Verwunderung und unser Staunen. Ich glaube, dass sich daraus die spezielle Weise der Weltwahrnehmung eines jeden speist und ich glaube, dass ein großer Teil unserer Aufgabe darin besteht, dafür eine Form und einen Ton finden. Ich weiß, dass die „Geschichten, die nur wir erzählen können“ nicht die ersten sind, die uns begegnen (und meistens leider auch nicht die, die dann folgen) – und dass die Suche danach ein langer und mühseliger Prozess sein kann.

Mittlerweile bin ich erstaunt, wie sehr ich mich in der Vergangenheit geirrt habe über so viele Aspekte, die das Schreiben betrifft. Ich habe die Bedeutung von Talent vollkommen überschätzt und diejenige von Praxis und konstruktiver Kritik unterschätzt. Ich habe geglaubt, dass eine Person über Phanatasie und Einfallsreichtum verfüge – oder eben nicht. Ich habe nicht gewusst, dass sich auch die Notwendigkeit unseres Schreiben entwickeln kann. Ich habe nicht gewusst, wie wichtig es ist, dass wir für unsere eigenen Ideen offen werden und dass wir es auch gerade da aushalten, wo es unbequem zu werden droht. Aber vor allem hatte ich keine Vorstellung davon, dass es „nötig ist, zu dem Menschen zu werden, der das Buch schreiben kann, das man schreiben muss.“ (Jonathan Franzen). Ich glaube, genau so verhält es sich.

8 Kommentare

  1. Hallo, da ist viel Wahres dran, und das erkannt zu haben, ist doch ein großes Geschenk und eine große Befreiung! In meinen 16 Jahren des hauptberuflichen Schreibens, habe ich oft erlebt, dass weder Papier noch Seele leben, wenn die Geschichte nicht die meine ist. Und wie großartig, die eigene Stimme gefunden zu haben (und immer wieder neu zu finden).
    In diesem Sinne: Freudvolles Schaffen wünsche ich!

  2. Beim Lesen dieses Eintrags musste ich an das spöttische Gesicht von Deleuze denken, das er in seinem mehrstündigen Gespräch mit Claire Parnet stets dann zog, wenn er bemerkte, es reiche ja nicht, etwas erlebt zu haben, um ein Buch zu schreiben. Schon als Kind dachte ich gelegentlich, es wäre vielleicht gut, etwas zu schreiben. Aber ich wusste nicht was. Bis heute bleibt dieses Gefühl. Komischerweise belastet es mich nicht. Es ist, wie wenn die Zeit eben noch nicht gekommen ist, auch, wenn ich mittlerweile in einem Alter bin, in der vielleicht nicht mehr zu viel Zeit bleibt. Es ist wohl dieser Aspekt des – ich sage jetzt mal – „Reifens“ (auch wenn ich das nicht so eindimensional verstanden wissen will), den Franzen beschreibt und der mir sehr gut gefällt.

    1. Vielen Dank für diese Gedanken, die ich sehr nachvollziehen kann! Franzen schildert in seinem Vortrag „Über autobiographische Literatur“ (aus dem ich das Zitat entnommen habe – veröffentlicht in „Weiter weg“) sehr anschaulich, wie sich seine inneren Einstellungen ändern mussten, bis er zu dem Autor der „Korrekturen“ werden konnte …

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