(31) Aufgreifen, was gerade da ist

„Good writers are monotonous, like good composers. They keep trying to perfect the one problem they were born to understand“ (Alberto Moravia). Ich weiß nicht, ob ich das bin, was Alberto Moravia sich unter einer „guten Autorin“ vorgestellt hat, aber ich bin mir sehr sicher dass es in meinem Leben das eine Problem gibt, das zu verstehen offenbar meine Lebensaufgabe ist: Lebensgeschichtslosigkeit. Seit vielen Jahren beschäftigt mich die Frage nach den Gründen, die das Erzählen, ja schon das Konstruieren von Lebensgeschichten erschweren oder sogar unmöglich machen auf eine sehr bewusste, sogar seit Jahrzehnten auf eher unklare, diffuse Weise. Es erleichtert mich sehr, dass der Text, den ich diesem Thema gewidmet habe nach vielen Jahren der Arbeit bald so weit sein wird, dass ich ihn aus der Hand geben kann.
Manchmal trifft man im Leben auf so einen Stein, den man wälzen muss (und es ist vermutlich meistens Last und Geschenk zugleich), aber für die meisten kreativen Prozesse in meinem Alltag stehen in meiner Vorstellung nicht Steine (ob groß oder klein) – sondern ein Kühlschrank. Oder richtiger, die Frage, was sich in ihm befindet. Was sich aus den Lebensmitteln, die schon da sind, kochen lässt. Das gilt nicht nur für das Schreiben selbst, es gilt für diesen Blog und natürlich für die Schreibwerkstätten, die ich anbiete. Immer versuche ich möglichst viel von dem aufzugreifen, von dem zu nutzen, was schon „da“ ist an Fragen und Themen, an Wünschen und Ideen, aber auch an Stimmungen. Das ist bei dieser sehr offenen Virtuellen Schreibwerkstatt natürlich eine besondere Herausforderung. Im Moment habe ich den Eindruck, dass es ganz gut wäre, wenn hier (wieder) ein bisschen mehr Austausch stattfände – einfach so über das Schreiben und vielleicht auch über das Lesen, jenseits der ganz konkreten Schreibanregungen oder -probleme, die aber natürlich auch weiterhin ihren Raum bekommen werden.
Ich werde also in den nächsten Wochen hier ab und zu etwas etwas tun, was ich normalerweise in Werkstätten nicht so oft mache: Von mir erzählen. Von den Texten, die mich beschäftigen. Von den Fragen, die sich für mich geklärt haben oder vielleicht auch noch immer offen sind. Beginnen werde ich mit einer für mich wirklich wichtigen Erkenntnis der letzten Jahre im Hinblick auf mein eigenes autobiographisches Schreiben: Es geht ja gar nicht (nur) um mich!

Ich freue mich auf Eure Erfahrungen, Fragen oder Gedanken!

Zusatzinformation zum Beitragsbild: Es handelt sich um das Gemälde Bosch (die Kälte des Weltalls) von Norbert Schwontkowski, das Teil der großartigen Ausstellung Some of My Secrets ist, die aktuell in der Bremer Kunsthalle ganz real besichtigt werden kann

10 Kommentare

  1. Das Bild mit dem Kühlschrank, also was da ist, bestmöglich zu verarbeiten, gilt doch für das Leben überhaupt. Aus dem, was man hat, sei es viel, sei es wenig, sei es das, was man sich wünscht oder ganz etwas anderes baut man sein Leben zusammen und kommt im Idealfall zu einem Punkt, an dem man „mit dem Leben tanzen kann“
    .
    Ich habe begonnen einen ernsthaften Text schreiben zu wollen und sehe schon, welche Hindernisse sich da auftürmen. Ich würde gerne drauf los schreiben und die Geschichte ihren Weg nehmen lassen. Das geht aber nicht, weil es sich um eine Geschichte handelt, in der Rückblenden eine große Rolle spielen sollen und daher braucht die Sache eine Struktur, in welche die einzelnen Episoden hineingehängt werden können. Das Erstellen einer Struktur, nach der ich dann vorgehen soll/möchte/muss geht mir aber völlig gegen die Natur.
    Weiters finde ich es schwierig zu entscheiden, welchen Anteil autobiographische
    Elemente haben sollen/dürfen.
    Und drittens bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es vielleicht nicht klug ist, etwas ganz anderes zu beginnen. Die langfristig richtige Vorgangsweise ist sicher, sich der Herausforderung zu stellen und den Zugang von mehreren Seiten zu versuchen. Dein Tipp nicht am Anfang sondern irgendwo in der Geschichte zu beginnen, kommt mir sehr zielführend vor. Die Erarbeitung eines Gesamtkonzepts ohnehin, aber das geht mir – wie gesagt – heftig gegen den Strich. Ich werde es aber versuchen. Mehr als einmal ist mir schon passiert, dass Dinge, die ich gar nicht wollte mir dann viel Freude gemacht haben. Manchmal muss man sich selbst überlisten 🙂 – Das wäre übrigens ein interessanter erster Satz 🙂 🙂

    1. „Mit dem Leben tanzen“ geht schon manchmal, mit den Texten ist es noch etwas arhythmisch bei mir. Schön, dich und deine Schreibidee hier wiederzutreffen.

    2. Das wäre ein erster Satz, der mir auch sehr gefiele! Und der vielleicht wirklich passen würde zu deinem Projekt? Auf eine erstaunliche Weise enthalten die Texte, die wir drauflos schreiben (die also eher Materialsammlungen als vorläufige Entwürfe sind) oft schon Lösungen oder Hinweise für das, was schwierig oder unklar ist.
      Zu deinen anderen Punkten fällt mir spontan folgendes ein: Ja, ich habe bei mir selbst und mittlerweile auch vielen anderen die Erfahrung gemacht, dass Planen und über den Text nachdenken, ja dass selbst das Überarbeiten Freude bereiten kann (hätte ich früher nie für möglich gehalten). Auch das hat ja eine sehr spielerische, im engeren Sinn kreative Seite und es gibt ja viele unterschiedliche Möglichkeiten, sich diesem Prozess zu nähern. Auch da ist es wichtig auszuprobieren, auf welche Weise es etwas werden kann, das Spaß macht und nicht von vornherein nervig ist.
      Und dann würde ich (Rückblenden hin oder her) dennoch auch wirklich viel „drauflos schreiben“ (s.o. „Materialsammlung), um herauszufinden, wohin es dich „zieht“, was du wirklich erzählen willst – womöglich klärt sich dann auch die Frage nach dem Verhältnis von autobiographisch/fiktiv. In jedem Fall: Gutes Gelingen!

      1. Danke für den ausführlichen Kommentar, der mir weiterhilft.
        Einer meiner Trugschlüsse war auch, dass so ein Text sich für die Veröffentlichung auf dem Blog eignet. Tut er nicht. Oder zumindest nicht in der Form, in der ich mir das vorgestellt hatte

  2. Liebe Jutta,
    mit dem Thema Lebensgeschichtslosigkeit hast du einen Nerv getroffen. Die Frage nach den Erkenntnismöglichkeiten und der Wahrheit in dem, was wir für Erinnerung halten, hat vor gut drei Jahren zu einem Zyklus aus zwölf Gedichten geführt. Den habe ich auf meinem Blog https://ulerolff.net (Stichwortsuche: Abwesende Geschichten) veröffentlicht. Damals konnte ich vorübergehend meinen Frieden machen mit der bleibenden Ungewissheit.
    Der Griff in den Kühlschrank nach den Zutaten scheint im Falle der Lebensgeschichtslosigkeit bei defekter Beleuchtung stattzufinden. Ich bin oft erstaunt über das unerwartete Aroma des fertigen Gerichts.

    Danke, dass du mit dieser Schreibwerkstatt so viel (Wieder-) Belebendes verschenkst. Ich folge den Spuren mit einigen zeitlichen Abstand. Und schreibe wieder Prosa.

    Herzliche Grüße

    Ule

    1. Liebe Ule, vielen Dank für den Hinweis und für das Weiterspinnen des Bildes und vor allem aber vielen Dank für diese schöne Rückmeldung: Andere zum Schreiben anzustiften, etwas in Bewegung zu bringen – das macht mir fast so viel Freude wie selbst zu schreiben … Herzliche Grüße auch von mir!

Ich freue mich über Kommentare!

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