Das Buch, das mich zur Leserin machte

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Birgit, die den wunderbaren Blog saetzeundschaetze betreibt, hat kürzlich 10 Fragen zu Büchern gestellt und eingeladen, sie (auf dem eigenen Blog oder ihrem) zu beantworten. Und wie bereits bei ihrer Umfrage zu den „Verschämten Lektüren„, an denen ich mich gerne mit diesem Geständnis beteiligt habe, reizten mich auch diese Fragen, obwohl (oder gerade weil) mir sofort schwante, dass sie zu beantworten nicht ganz einfach werden würde. Dies sind die Fragen:

Das erste Buch, das du bewusst gelesen hast?
Das Buch, das Deine Jugend begleitete?
Das Buch, das Dich zur Leserin/zum Leser machte?
Das Buch, das Du am häufigsten gelesen hast?
Das Buch, das Dir am wichtigsten ist?
Das Buch, vor dem Du einen riesigen Respekt bzw. Bammel hast?
Das Buch, das Deiner Meinung nach am meisten überschätzt wird?
Das Buch, das Du unbedingt noch lesen willst – wenn da einmal Zeit wäre?
Das Buch, das Dir am meisten Angst macht?
Das Buch, das Du gern selbst geschrieben hättest?

Die Frage, welches Buch mich zur Leserin machte, sprang mir gleich ins Auge. „Zur Leserin werden“, das klingt nach einem mächtigen Schritt und mir leuchtete ein, dass ich diesen Schritt irgendwann gemacht haben musste. Aber wann? Bei und mit welcher Lektüre?

Nach einigem Nachdenken fiel mir Tolkiens „Herr der Ringe“ ein. Weil ich in diese (heute sagt man ja gerne) eskapistische Lektüre vollkommen vesunken bin? Vielleicht. Aber wohl noch mehr, weil die fiktive „Welt“, in die ich geriet, mir „größer“ erschien als meine eigene „reale“. Seltsam? Aber wieviele Orte, wieviele Menschen, wieviele Weisen des Erlebens kannte ich denn zu der Zeit der Lektüre als 12- oder 13jährige?

Und während ich darüber nachdachte, den „Herrn der Ringe“ (an dessen Inhalt ich kaum Erinnerungen habe – aber das ist eine andere Geschichte) nochmals in die Hand zu nehmen, fiel mir ein anderer Kandidat ein: „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil. Weniger wegen des Textes selbst, sondern weil ich mit dieser Lektüre erlebte, dass „Leserin“ auch eine „soziale Rolle“ ist, die ich sehr unterschiedlich ausfüllen konnte? Dass Lektüren auch „Distinktionsgewinn“ (Bourdieu) versprechen (können) – was ja gerade bei den als „schwer“ etikettierten Texten kein unerheblicher Aspekt ist, ganz unabhängig davon, ob ich als einzelne Leserin darauf Wert lege.

Weiter nachdenkend fielen mir nochmals ganz andere Titel ein: „Der Schwur von Kolvillag“ von Elie Wiesel oder „Bronsteins Kinder“ von Jurek Becker. War ich in diesen Büchern nicht erstmals der Tatsache begegnet, dass uns literarische Texte „auf unerklärliche Weise oft näher sind als selbst vertraute Personen” (Wilhelm Genazino in “Das Bild des Autors ist der Roman des Lesers”)? Vollzog ich mit dieser Erkenntnis nicht erst den Schritt zur Leserin, die fortan Bücher in der Hoffnung aufschlug, sie mögen mir etwas Wesentliches erzählen – über die Welt oder über mich selbst?

Und schließlich denke ich oft, dass ich durch das Schreiben überhaupt erst zur Leserin geworden bin …

7 Kommentare

  1. Schwierige Fragen das und spannende Antworte.

    Ich kann über mich sagen, dass ich nie (vielleicht die ersten drei Lebensjahre?) eine Nichtleserin war. Ich habe mit drei Jahren angefangen und nie wieder aufgehört. Aber warum und wo das angefangen hat, weiß ich nicht. Ich wurde wohl so geboren und bade zeitlebens in Geschichten.

    Lachend ab.

  2. Das prägendste Buch für meine Lesekarriere war wohl Hohlbeins ‚Märchenmond‘ – auf einem Dänemarkurlaub meinem älteren Bruder geklaut und dann gelesen, gelesen, gelesen. Es war wohl die bis dato friedvollste Heimreise für meine Eltern, da beide Kinder nicht ansprechbar waren. Wieder angekommen hüpfte ich für die letzten zwei Kapitel aufs Hochbett und tauchte erst später wieder auf. Da war wohl elf, vielleicht auch zehn.
    Es hat mich aber auch als Mensch geprägt, da Hohlbeins Figuren (ich habe festgestellt, dass ich ihn als Erwachsene nicht mehr lesen mag) über eine breite Palette an Grautönen verfügen und so manches für die moralische Entwicklung zu bieten haben.
    Manches Buch, das ich früher geliebt habe, kommt mir nun eher holzschnittartig vor – jedes Buch hat wohl seine Zeit.

    1. Jetzt, wo ich das lese, liebe Kathrin, glaube ich, dass das bei mir mit dem „Herrn der Ringe“ sehr ähnlich war. Die „Nicht-Ansprechbarkeit“ ist ein wunderbares Kriterium … Zu dem „Jedes Buch hat seine Zeit“ kann ich dir nur allerwärmstens die „Verschämten Lektüren“ bei saetzeundschaetze empfehlen. Dadurch ist mir einiges wieder eingefallen … Aber ich möchte dich natürlich auch nicht vom Schreiben abhalten 😉

  3. Liebe Jutta,
    schön, dass Du den Faden aufgenommen und so wunderbar weitergesponnen hast. Und dann kommt dieser Satz:
    „Vollzog ich mit dieser Erkenntnis nicht erst den Schritt zur Leserin, die fortan Bücher in der Hoffnung aufschlug, sie mögen mir etwas ganz Wesentliches erzählen – über mich selbst?“
    Und plötzlich weiß ich auch wieder ein bißchen mehr, warum ich zur „bewußteren“ Leserin geworden bin, nach den eskapistischen Lektüren (die eher konsumhaft verschlungen wurden) der Jugendjahre…Bronsteins Kinder, ja!

    1. Liebe Birgit, freut mich sehr, dass du mit meinen Zeilen etwas anfangen kannst, dass sie auch Punkte deiner Leseerfahrungen berühren. Als ich den Satz, den ich geschrieben hatte, nun nochmals las, fiel mir auf, dass dort noch etwas fehlte und ich habe mir erlaubt, es nachzutragen: es heißt nun „sie mögen mir etwas Wesentliches erzählen – über die Welt oder über mich selbst“ … Ja. Bronsteins Kinder. Wäre mich für mich ein heißer Kandidat für die Frage nach dem Buch, das ich gerne geschrieben hätte, wenn ich nicht zufälligerweise Autorin wäre und daher die Gelegenheit und Möglichkeit und in meiner Vorstellung vielleicht sogar die Aufgabe habe, ziemlich genau die Bücher zu schreiben, die ich schreiben möchte 😉

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