Schon lange möchte ich eine neue Rubrik eröffnen, schon lange möchte ich über „besondere Bücher“ schreiben. Über Bücher, die mir besonders viel bedeuten. Oder aus besonderen Gründen. Schon lange weiß ich, welche Bücher ich in dieser Rubrik als erste vorstellen möchte: „Draussen um diese Zeit“ von Ulrike Ulrich, „Die Abenteuer des starken Wanja“ von Otfried Preussler und „Dialog in Laetitia“ von Ernst Tugendhat.
„Draussen um diese Zeit“ von Ulrike Ulrich ist soeben im Wiener Luftschacht Verlag erschienen und nach den beiden Roman „Fern bleiben“ und „Hinter den Augen“ der erste Erzählband der Zürcher Autorin. Sämtliche Texte sind darin eindeutig „verortet“ – und zwar in den Metropolen New York, Paris, Zürich, Wien und Rom. Diesen Umstand hat der Verlag für eine außerordentlich gelungene Gestaltung des Buches genutzt, auch das soll nicht unerwähnt bleiben.
So viel so gut, aber noch nicht wirklich ungewöhnlich. Warum also begeistern mich diese Texte so, dass sie mir etwas Besonderes bedeuten? Nun, dafür gibt es mehrere Gründe und für den ersten muss ich ein wenig ausholen und eine Frage in den Raum stellen, die gut zu diesem Blog und seinen Themen passt: Wie und anhand welcher Momente erzählen wir denn normalerweise von unserem Leben, erzählen Autor:innen vom Leben „ihrer“ Figuren? Es sollen sicherlich „besondere“ Momente sein, sie sollen aus dem ganz gewöhnlichen Einerlei der Alltagsroutine herausfallen, aber zugleich sollen sie nicht auf die klischeehafte Weise „bedeutend“ sein, wie wir sie aus dem Fotoalbum kennen: Einschulung, Geburtstag, Hochzeit usw.
Ulrike Ulrich ist eine wahre Meisterin im Aufspüren, im Erfinden solcher Momente, durch die wir, wie durch ein Schlüsselloch auf ein Leben blicken können. Da ist die Frau, die am Schildkrötenbecken auf einen Mann wartet, der deutlich jünger ist als sie und in den sie sich vielleicht verliebt hat. Wie naheliegend, dass ihre Gedanken in dieser Situation ganz beiläufig um ihre Töchter, den Exmann und den Vater kreisen. Sie verbringt ihre Mittagspause dort und wir mit ihr und danach wissen wir nicht alles, aber doch erstaunlich viel über diese Frau und die Welt, in der sie lebt.
Es ist eine ganz andere Welt, als diejenige von Polly, die Comics zeichnet und nun, vor der Eröffnung einer großen Vernissage, ganz überraschende Gründe hat, die Ereignisse der letzten Jahre Revue passieren zu lassen. Oder Sylvie, die einem spontanen Impuls folgend, den Obdachlosen Leo zum Essen einlädt, eine gutgemeinte Geste, die zu einer absurd verwickelten Kommunikation führt. Und wie unterschiedlich sind die Situationen der Figuren allein in der „Pariser“ Geschichte „Le Refuge“, deren Zentrum ein Cafe ist. So unterschiedlich sind diese Lebenswelten, dass die einzelnen Figuren, würden sie aus den Texten heraustreten, kaum zueinander fänden, kaum miteinander ins Gespräch kämen – aber wir Leser:innen dürfen sie alle kennenlernen, dürfen mit ihnen an unterschiedlichsten Orten unterwegs sein.
Es sind überwiegend, aber nicht ausschließlich Frauen in deren Leben gerade etwas kippt – oder zu kippen droht. Vielleicht wird danach alles wie immer weitergehen, aber vielleicht wird auch der kleine, schmale Riss, der sich aufgetan hat, größer werden, einen Abgrund offenbaren? Davon erzählt Ulrike Ulrich und zwar mit einem feinen, subtilen Humor, der ihre Figuren nie der Lächerlichkeit preisgibt, aber die tragikkomische Seite ihrer Handlungen und Gedanken, ihrer Bemühungen sich zu behaupten, nicht aus den Augen verliert.
Nun könnte, wer diesen Blog sehr aufmerksam liest, auf die Idee kommen, ich sei durch meine Freundschaft zu Ulrike Ulrich, die hier schon einmal Erwähnung fand, vielleicht keine gute, keine „objektive“ Rezensentin. Das stimmt. Ich bin vermutlich generell keine gute „objektive“ Rezensentin, dazu bin ich zu sehr Autorin, die sofort mit- und umschreibt, die sich für einzelne Aspekte im fremden Text interessiert, weil sie mich im eigenen gerade beschäftigen usw.
Deswegen beende ich diesen Beitrag mit dem Urteil eines „objektiven“ Lesers: Der Buchhändler Burkhard Schirdewahn aus der Bunt Buchhandlung in Köln Ehrenfeld schreibt auf seiner Facebook-Seite):
„Diese Erzählungen sind nicht nur fein, sondern ausgezeichnet. Ihnen eignet alles, was literarisch schön ist: luftige Komposition & kunstvolle Perspektivwechsel; Motive, Schauplätze & Protagonisten, die unmittelbar & lebendig in des Lesers Phantasie aufscheinen; und eine präzise Sprache, die sowohl ihre Brillanz als auch ihr Understatement kunstvoll versteckt & ausschließlich in den Dienst der zu erzählenden Geschichten stellt: ohne überflüssiges Geklapper, ohne Geraune, ohne zur Schau gestellte Tricks: just stories.“
Nachtrag (27.08.2015): Gerade ist auf dem hotlistblog die schöne Erzählung „Einfach die Notbremse“ von Ulrike Ulrich in der neuen Rubrik „Kleine Prosa“ veröffentlich worden.
Liebe Jutta,
das ist eine ausgesprochen gute Idee von Dir und sehr Blogger-freundlich. Erhoffe ich mir von Dir doch gute Lektüretipps abseits des Mainstreams. Und das – vor allem die verwickelten Pariser-Café-Szenen – haben mich schon sehr neugierig gemacht…
Liebe Birgit, würde mich freuen und vor allem aber auch sehr interessieren, wie deine Lektüreeindrücke ausfallen! Ich bin recht zuversichtlich, dass dich Ton, Humor und die Figuren ansprechen werden. Und dass dir die Idee, hier öfter etwas vorzustellen, gefällt, freut mich natürlich auch (du siehst an diesem Satz, dass es heute tatsächlich hier warm geworden ist 😉
Wer will schon objektiv sein, kann man ja auch gar nicht. Ich bin davon überzeugt, dass, wer selber schreibt immer unterscheiden kann zwischen der Person und dem Text. Für mich klingt das nach guter Lektüre. Schön, wenn du von jetzt an öfter etwas empfiehlst.
Liebe Theresa, vielen Dank für deinen Kommentar! Ich bin zumindest überzeugt, dass ich eine Qualität nicht in einen Text „hineinlesen“ kann, der sie gar nicht besitzt – eher kann ich schon mal eine vorhandene Qualität übersehen … Viele Grüße!
Eine schöne Idee, liebe Jutta! Auf die Erzählungen von Ulrike Ulrich hast du mich jedenfalls schon einmal neugierig gemacht. (Macht ja nichts, dass du die Autorin auch als Mensch magst. ;-))
Liebe Maren, ich bin überdurchschnittlich zuversichtlich, dass gerade du die Texte von Ulrike Ulrich mögen wirst – allein schon wegen der „Weltläufigkeit“ einiger der Figuren … Dir einen schönen Sonntag!
Liebe Jutta,
Dein Blog wird so langsam gefährlich. Nach Nina Jäckle (Nai habe ich mir sofort bestellt und nach kurzem Reinlesen gleich mein aktuelles Buch, für Sätze wie „Wenn die Arme nicht da wären, denkt Nai, wenn die Arme nicht genau dort wären, wo sie jetzt sind, na dann könnten die Hände auch nicht viel ausrichten.“) jetzt also Ulrike Ulrich. Ich kenn siegar nicht, geschweige den Luftschacht Verlag, aber Deine Besprechung klingt so anregend, dass ich mir wohl auch dieses Buch sobald wie möglich lesen möchte. Schon weil ich diese Risse mag…
Liebe Grüsse
Kai
Lieber Kai, sollte ich mich mit meinem Blog jemals irgendwo bewerben, dann werde ich unbedingt deinen Satz verwenden: dein Blog wird so langsam gefährlich. Das freut mich wirklich sehr! Und Ulrike Ulrich und der Luftschacht-Verlag müssten eigentlich viel bekannter sein – wenn man es an der Qualität der Texte und was den Verlag betrifft, auch an der Gestaltung misst – das sind nämlich durchweg toll gemachte Bücher! Allerbeste Grüße!
Liebe Jutta, du verstehst es, auf ein Buch neugierig zu machen. Der Sprung von Twitter hierher hat sich somit schon gelohnt, obwohl ich gerade keine freie Zeit für zusätzliche Bücher habe. Aber es ist definitiv auf meiner Merkliste gelandet. Es klingt nach einem gemütlichen Winterbuch, das man am besten in eine Decke eingemümmelt mit einer Tasse Tee genießt. Vielen Dank!
Freut mich sehr, dass du auf deinem „Blog“-Spaziergang auch hier gelandet bist – und dass ich dich neugierig machen konnte auf Ulrike Ulrichs schönen Erzählband! Bestimmt kann man es prima im Winter lesen – im Sommer allerdings auch 😉 Herzliche Grüße!
Ich ahnte ja nicht bzw. konnte den objektiven Abstand zum Buch nicht wahren, um erst einmal gründlichst zu recherchieren „wie es sich gehört“, sonst hätte ich vor Abfassung des Beitrags vorbeigeschaut, wobei, wäre ich überhaupt eine gründliche Person, wäre ich im August bereits aufmerksam geworden. So verzeihen Sie mein Versäumnis.
Wird mir in Bezug auf weitere Entdeckungen hoffentlich nicht wieder passieren.
Freundlichst
Ihr Herr Hund
Lieber Herr Hund, grämen Sie sich nicht – ich bin ja in manchem der ungründlichste Mensch, den man sich denken kann! Beste Grüße!