Versuche über Fußball: „Nachwuchssorgen“ – eine Kurzgeschichte

Mit zwölf Jahren war Kai Kramer erstmals den Spähern eines Profivereins aufgefallen, mit vierzehn bezog er ein Doppelzimmer im Internat eines für seine gute Jugendarbeit bekannten Bundesligisten und mit fünfzehn setzte er sich nach dem Training in den Zug, fuhr quer durch die Republik und erklärte seinen reichlich verdutzten Eltern beim Abendessen, er habe Heimweh und wolle wieder zurück zu ihnen und zu dem Dorfverein, dessen 1. Herrenmannschaft gerade erstmals in die Landesliga aufgestiegen war.

Die Eltern freuten sich über die Anhänglichkeit des Sohnes und befürchteten gleichzeitig, er werfe so etwas wie einen Lottoschein mit Gewinngarantie weg – und das in diesen unsicheren Zeiten.
Niemals bringen wir dich gegen deinen Willen zurück, sagte der Vater. Lass uns doch erst mal darüber schlafen, die Mutter, als es an der Haustür klingelte.
Dort standen der Jugendtrainer und drei Mitspieler, die eine siebenstündige Autofahrt hinter sich gebracht hatten, um Kai davon zu überzeugen, dass er nicht nur wegen seiner Ballfertigkeit, seiner Schnelligkeit und Kopfballstärke ein angesehener Mitspieler sei, sondern ebenso wegen seines trockenen Witzes, seiner Zuverlässigkeit und seiner Bescheidenheit.
Danke schön, sagte Kai, und gleich danach: Entschuldigung, sah der Reihe nach seine Mitspieler, den Trainer, auch seine Eltern an und stieg am nächsten Morgen in das Auto, das ihn, gemeinsam mit den anderen zurück ins Internat brachte.
Von da an durchlief Kai geradlinig die diversen Jugendmannschaften und wurde mehrfach zu Sichtungsturnieren des DFB eingeladen.
Wie alle anderen Internatsbewohner auch wurde Kai alle sechs Monate zu einem sogenannten „Entwicklungsgespräch“ gebeten, in dem nicht nur die fußballerischen Leistungen, sondern auch die Schulnoten sowie das Sozialverhalten besprochen wurden.

Wie würdest du denn selber deine Situation beschreiben, eröffnete der Leier des Nachwuchszentrums das Gespräch, als Kai gerade siebzehn geworden war.
In der Schule gibt es keine Probleme, sagte Kai. Die einzige Vier in Englisch beruhe auf einem Missverständnis – er habe etwas Falsches gelernt für die Klausur. Und beim Fußball, na ja, der Trainer sei noch immer nicht ganz zufrieden mit seiner Spieleröffnung aber sein Zweikampfverhalten sei deutlich besser geworden und auch seine Torgefährlichkeit nach Standards.
Und sonst, wollte Herr Hartmann wissen. Kai zögerte kurz und erzählte dann von dem letzen Meisterschaftsspiel und dass ihm da erstmals ein Tor mit links gelungen sei. Allerdings sei der Torwart auch ein ziemlicher Pfosten gewesen. Kai musste lachen, als er daran dachte.
Und sonst, wiederholte Herr Böhm. Was ist mit Mädchen, mit Musik oder meinetwegen auch Computerspielen?
Ach so, sagte Kai, das meinen Sie. Na ja, da gebe es außer Fußball und seiner Familie und vielleicht noch dem Hund seiner Eltern, aber der gehöre ja eigentlich auch zur Familie, nichts, das ihn so richtig interessiere, aber auch daran wolle er gerne arbeiten.

Herr Böhm musste lachen und sagte dann, dass man einen wie Kai noch vor zehn Jahren gelobt habe für seine Konzentration und, ja, vielleicht sogar Verbissenheit und dass man aber heutzutage eben die gesamte Persönlichkeitsentwicklung im Auge behalten wolle, und da sei es jetzt bei ihm langsam an der Zeit, dass er sich zumindest hin und wieder auch mal für ein Mädchen interessiere.
Gut, sagte Kai Kramer: Ich werde mich darum kümmern. Das ist prima, sagte Herr Böhm, sonst muss ich nämlich unserem Psychologen Bescheid sagen.

Kai ging zurück in sein Zimmer, das er sich seit einigen Monaten mit Patrick teilte. Patrick hatte anfangs zu den stärksten Spielern gehört, nun stagnierten seine Leistungen schon länger und es war ihm mitgeteilt worden, dass er das Internat möglicherweise verlassen müsse, wenn es ihm nicht bald gelänge, positiv auf sich aufmerksam zu machen.
Und, fragte Patrick, als Kai die Tür geschlossen hatte.
Alles in Ordnung, sagte Kai, aber irgendwie soll ich so tun, als wenn ich mich für Mädchen interessieren würde – denen fällt auch immer wieder was Neues ein.
Du hast es vielleicht gut, sagte Patrick.
Kann man so oder so sehen, antwortete Kai.
Bist du etwa schwul, fragte Patrick entsetzt, woraufhin sich Kai stöhnend auf sein Bett fallen ließ: Ihr habt sie doch nicht alle.

Diese Antwort ließ für Patrick einiges offen, und als er zwei Tage später den Internatsleiter allein in der Küche sitzen sah, näherte er sich ihm, drucksend.
Was ist los, Patrick, fragte Herr Böhm. Patrick schob die Schultern vor, dann wieder zurück, er steckte die Hände erst vorne, dann hinten in die Taschen seiner Jeans und dann fand er endlich seine Stimme und fragte zurück: Es gibt nicht wirklich schwule Fußballer, oder? Er machte eine kurze Pause. Das schließt sich doch irgendwie gegenseitig aus, oder?

Herr Böhm atmete tief ein, pustete die Luft eher unwillig aus und fragte dann mit betonter Freundlichkeit in der Stimme: Geht’s um dich, Patrick?
Patrick sank für einen kurzen Moment zusammen, wehrte die Frage dann aber ab, wie ein Torwart den bevorstehenden Elfmeter durch Wackeln und Zucken sämtlicher Gliedmaßen.
Nein! Nein! Wie er denn das nur denken könne, aber Kai, Patrick schüttelte den Kopf, der mache ihm in der letzten Zeit schon Sorgen. Kein bisschen interessiere sich der für Mädchen, ob das Herrn Böhm schon mal aufgefallen sei. Immerzu läge Kai auf dem Bett und könne nicht genug bekommen von Fußballern. Vor allem: Fotos von Fußballern. Patrick konnte jetzt wieder ganz normal reden.
Und wenn er nachts …?, fragte Patrick bestimmt unbestimmt.
Ist so etwas denn schon mal vorgekommen, wollte Herr Böhm wissen und Patrick musste eine ganze Weile über diese Frage nachdenken und sagte dann, wieder zögernd, er wolle ja niemandem Schwierigkeiten bereiten, aber ob es vielleicht möglich wäre, dass er das Zimmer wechsele, vielleicht würden seine Leistungen dann ja auch wieder besser werden.

Herr Böhm stand auf, ging rasch den Flur entlang zu Kais und Patricks Zimmer. Er klopfte an und überprüfte, ob sein Rücken gerade und die Schultern nicht hochgezogen waren. Als er einen Brummton hörte, betrat er das Zimmer.
Kai lag auf seinem Bett und blätterte in einer englischen Fußballzeitschrift.
Ist wirklich alles in Ordnung mit dir, wollte Herr Böhm wissen. Er habe das Gefühl, dass Kai irgendetwas bedrücke.
Nicht schon wieder, sagte Kai, das Magazin weiter in der Hand haltend, das sei ja bald nicht mehr auszuhalten und wenn sie so weitermachten, dann würde er morgen das nächstbeste Mädchen aus der Schule abschleppen – nur damit er wieder seine Ruhe habe.
Das wäre sicherlich nicht der richtige Weg mit der Situation umzugehen, sagte Herr Böhm und dass Kai vielleicht auch etwas mehr Ruhe für sich brauche und daher ab sofort das kürzlich frei gewordene Einzelzimmer Nr. 3 beziehen könne.
Also eigentlich würde er lieber mit Patrick in einem Zimmer, fing Kai noch an, aber Herr Böhm hatte bereits die Tür geöff-net und verließ kopfschüttelnd den Raum.

Zwei Tage später wurde Kai Kramer zum Psychologen bestellt und erschrak, als er die Hinterköpfe seiner Eltern in dessen Zimmer erblickte. Der Psychologe machte eine Handbewegung, die ihn zum Eintreten aufforderte, aber seine Eltern spürten offenbar gar nicht, dass er kaum vier Meter von ihnen entfernt in ihrem Rücken stand, denn sie drehten sich nicht nach ihm um, blieben bewegungslos wie die gelben Plastikfiguren auf dem Trainingsplatz, mit denen manchmal Standard-situationen geübt wurden.
Der Psychologe bat ihn, Platz zu nehmen, und Kai, der mittlerweile fürchtete, zu Hause sei etwas derart Schlimmes passiert, dass die Eltern noch nicht mal in der Lage waren, ihn zu begrüßen, rutschte weiter nach vorne auf seinem Stuhl, in der Hoffnung, er könne den Psychologen, der sich offenbar für die Erklärung der ganzen Situation zuständig fühlte, dadurch etwas antreiben.
Es sei wichtig, begann der Psychologe mit einem Lächeln, mit dem er nacheinander jeden im Raum bedachte, es sei wichtig, bei jungen Spielern immer wieder von neuem zu überprüfen, welche Art der Förderung die bestmögliche Entwicklung verspreche, und dass manchmal der verschlungene Weg eher zum Ziel führe als der grade, der dann ja auch immer, wie jetzt bei Kai, in einer Sackgasse zu enden drohe. Nach langer, reiflicher Überlegung sei die Leitung der Nachwuchsabteilung daher zu dem Ergebnis gekommen, an dieser Stelle faltete der Psychologe die Hände, als sei auch die Zustimmung des lieben Gottes eingeholt worden, dass also die geschützte Umgebung des Internats ganz offenbar Kais allgemeine Persönlichkeitsentwicklung blockiere und daher sein Auszug aus dem Internat die einzige Möglichkeit einer verantwortungsbewussten Förderung darstelle.
Ich habe doch gar nichts gemacht, empörte sich Kai, dem sofort die beiden anderen Rausschmisse der letzten Jahre – der eine wegen wiederholten Kiffens, der andere wegen Abzockerei – eingefallen waren.
Nein, du hast auch nichts gemacht, sagte der Vater und legte Kai nach einem kurzen Zögern die Hand auf den Unterarm. Der Psychologe nickte zustimmend, jetzt lass den Kopf nicht hängen – nichts spricht gegen eine Bundesligakarriere, wenn du deinen Weg einmal gefunden hast, und als Kai mit seinen Eltern schon schweigend den Gang entlang lief, da rief er auf einmal: Und du bist ganz sicher nicht der Einzige, ganz sicher nicht!

17 Kommentare

  1. Das Gefällt mir ist nur mit begleitenden Worten zu geben.
    Tief betroffen macht mich dieser Text. Danke. Ich und Fußball… nun… eher nein. Aber diese Fußballversuche hier und dieses wichtige Thema, diese in mehrerlei herzliche Thema, das ist für mich ein Highlight. Schade irgendwie.
    Danke!

    1. Das freut mich wirklich sehr! Ich hatte ja kürzlich schon mal erwähnt, dass ich ein bisschen skeptisch war, ob die *Versuche …“ hier LeserInnen fänden – und werde nun mit so aufmerksamen Lektüren belohnt.

  2. …dieser Versuch über Fußball gefält mir besonders gut. Obwohl Fußball eigentlich nicht so meins ist, hat er mich fasziniert. Er ist spannend bis zum Ende und stellt das „Problem“ hautnah dar. Er regt wirklich zum Nachdenken an.

    1. Das ist ja oft eine Herausforderung beim Schreiben: das Besondere und das Allgemeine oder Allgemeingültige so auszubalancieren, dass letzteres immer „durchschimmert“ … Freue mich daher sehr über deinen Kommentar! Herzlich: J.

  3. Sehr gut getroffen, Jutta. In meinem näheren Umfeld sind zwei Jungs unterschiedlichen Alters gesichtet worden. Es werden Viel mehr gesichtet als gebraucht werden, um die Schulen und Internate voll zu bekommen. Was passiert mit den ausgemusterten, die nur auf das Ziel Bundesliga ausgebildet werden, wenn sie irgendwann ausgemustert werden? Wie geht das leben weiter? Wie gehen Sie damit um, plötzlich nicht mehr so viel Geld zu verdienen?
    LG von Susanne

    1. Liebe Susanne, vielen Dank für deine zustimmenden Zeilen! Und was für ein Zufall, dass du gleich zwei Jungen kennst, die gesichtet wurden – und sich vermutlich entsprechende Hoffnungen gemacht haben. Mich selbst hat an der Geschichte am meisten interessiert, wie ambivalent diese Entwicklung ist, in der „der ganze Mensch“ in das Zentrum der Bemühungen tritt. Nicht mehr nur gute Kicker sollen die Jungs sein und werden, sondern „Persönlichkeiten“. So, wie wir alle immer mehr angehalten sind, an uns zu „arbeiten“ usw. Und, na klar, dann hat mich auch die Frage interessiert, was passiert in einem solchen Internat, wenn auch nur der Verdacht entsteht, einer der Jungs könne schwul sein … Dir ein schönes Wochenende und herzliche Grüße!

  4. Liebe Jutta.
    Ich hatte mir vorgenommen nicht mehr zu schreiben, aber wie es so ist mit den Vorsätzen.
    Irgendwie passieren so abstruse Gefühle in mir. Dieser Text gefällt mir nicht. Deshalb nicht, weil er so viele wunde Punkte unseres handeln und denken anspricht.
    Missbrauch, Lüge, Vorteilsdenken, Abschiebung. Ohnmacht, Vorurteile, Gleichgültigkeit, Hinnahme.
    Ich spüre nicht Vertrauen, Anerkennung, Aufklärung, Akzeptanz.
    Dürfte ich meinen Impulsen nachgeben, würde ich mit meiner Faust auf den Tisch schlagen, so maßlos wütend bin ich.
    Es hört nie auf, für etwas zu stehen, zu kämpfen. Ich weiß, es ist nur eine Geschichte, kurz.

    1. Liebe Monika, ich bin keine große Freundin von Vorsätzen rund ums Schreiben und insofern freue ich mich, dass der Text dann ja doch auch etwas Gutes hatte: du meldest dich wieder zu Wort! Und sonst? Sollen AutorInnen ihre Texte nicht verteidigen, das muss den Texten schon alleine gelingen (oder nicht gelingen). Herzliche Grüße!

  5. Danke Jutta,
    mir fehlt es an Rhetorik. Ich bin mir nicht mehr sicher, was nachhaltiger ist. Taten, oder Worte.
    Ich denke, dass Worte die Waffen sind, die am meisten gefürchtet werden können.
    Worte haben Macht. Sind Vernichtungsmaschinen.
    Du hast mit Worten ein Thema aufgegriffen, welches latent an der Oberfläche schwelgt.
    Die Andersartigkeit sexuellen Empfinden und der Umgang damit. Dass wir darüber reden müssen, vielleicht sogar rechtfertigen.
    Oder gar klarstellen.
    Das Ausbildung davon abhängig gemacht werden, oder abgelehnt werden.
    Berufliche Laufbahnen verhindert werden.
    Dazu kann ich nicht sagen es: Gefällt.
    Den AutorInnen kritisiere ich nicht, aber das gesellschaftliche, ablehnende Verhalten.

    1. Das stimmt! Auch das ist natürlich ein wunderbarer Vorteil des Schreibens gegenüber dem Fußball: man kann es alleine machen. Der andere Vorteil – und für den bin ich nicht weniger dankbar: Es gibt keinen Anpfiff, vor allem keinen Abpfiff, man muss seine „Leistung“ nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt erbringen und dann ist es vorbei … Wie großartig, dass wir immer wieder neu beginnen können, hier einen Satz stehen lassen, da einen Absatz überarbeiten und irgendwann aus dem jeweils besten Anlauf die gelungensten Sequenzen übernehmen. Was gäben die Fußballer wohl darum, wenn sie so lange aufs Tor schießen dürften, bis der Ball drin ist 😉 Ich grüße dich sehr herlich (habe nicht nur wegen B. öfter an dich gedacht …)

Ich freue mich über Kommentare!

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