Queer Lit(!) oder Das Schreiben der anderen II

Aufgeschlagene Doppelseite (Notizbuch)

Ich lese zu schnell. Fast immer. Es ist besser geworden in den letzten Jahren, aber noch immer lese ich meist eiliger, als ich es eigentlich gut und vor allem sinnvoll fände. Manchmal nehme ich mir schon während der Lektüre vor, den Text noch ein zweites Mal – „richtig“ – zu lesen. Aber nur selten setze ich den guten Vorsatz in die Tat um. Auch deswegen hat mich die Anfrage des Bremer Literaturhauses sehr gefreut, über die vier Autor:innen und ihre Bücher zu schreiben, die in diesem Herbst, im Rahmen des queeren Literaturprogramms Queer Lit(!) nach Bremen kommen: Ich hatte einen zwingenden Grund für eine zweite, sorgfältigere Lektüre.

Das galt besonders für Blaue Frau von Antje Ravik Strubel, das ich kurz nach dem Erscheinen bereits begeistert und voller Spannung gelesen hatte. So sehr ich es bei der ersten Lektüre genossen hatte, mich von den Spannungsbögen durch den Text ziehen zu lassen, so sehr freute es mich nun, den Text langsam zu durchdenken – und meine Gedanken, Fragen und Assoziationen in ihn hineinzuschreiben.

Aufgeschlagene Buch-Doppelseite, auf der zahlreiche Sätze markiert sind und/oder angestrichen. Zudem gibt es Sätze/Fragen, die handschriftlich in Druckbuchstaben notiert sind (z.B. WELCHES WISSEN, WELCHE EXPERTISE BESITUT DIE BLAUE FRAU?

Und dann musste ich entscheiden, über welches Thema, welchen Aspekt der Blauen Frau ich schreiben wollte. Was hatte der Text mit mir und meinem Schreiben zu tun? Das war ja der Leitgedanke unter dem diese vier Texte stehen sollten. Die vier sehr kurzen Texte – was die Auswahl nochmals erschwerte. Zunächst hatte ich über die Figur der „blauen Frau“ schreiben wollen, über die Frage, was es wohl auf sich hat mit ihr, welchen Status sie einnimmt. Aber war diese Frage nicht vor allem (und vielleicht ausschließlich?) für Literatur-Nerds interessant?

Ich habe dann weder über die blaue Frau geschrieben, noch darüber, dass dieser Text von den ganz unterschiedlichen Formen von Gewalt (individueller und kollektiver, sichtbarer wie unsichtbarer, physischer wie verbaler) erzählt, obwohl ich beides für sehr bemerkenswert halte. Ich habe mir einen Punkt herausgesucht, der in der Nähe davon liegt oder vielleicht auch nur auf der anderen Seite … Der „Clou“, der Antje Rávik Strubel mit der blauen Frau gelingt, liegt für mich darin, dass es mit dieser Figur zwar eine Meta-Ebene gibt, die „allgemeineren“ Themen dort aber eben gerade nicht verhandelt werden. Diese Themen sind Bestandteil der unmittelbaren Erzählung – und dass das Antje Ravik Strubel ohne jede Belehrung, ohne falschen Ton gelingt, dass wir immer glauben, die Figuren reden zu hören und nicht die Autorin, ist ein kleines Wunder.

„Ich habe bis vor ein paar Jahr geglaubt, dass man alles erzählen kann.“ So beginnt nun mein Text Antje Rávik Strubel oder Möglichkeiten des Erzählens … Und so ähnlich, wie mit diesem Text, wie mit dieser Autorin ist es mir auch mit den anderen Autoren gegangen: immer musste ich mich auf einen Punkt beschränken, immer blieb dadurch etwas Wichtiges unberücksichtigt, immer ist meine Annäherung also sehr subjektiv.

Bei Gunther Geltinger habe ich über „Das Schreiben und das Leben“ und autofiktionale Verwicklungen geschrieben und bei Daniel Schreiber über „Die Untersuchung falscher Vorstellungen“ und wie wichtig seine Text als Orientierungsmöglichkeiten für mich waren. Bei Jayrôme C. Robinet habe ich schließlich über „Anders sein“ geschrieben und über die Schwierigkeiten, in die wir geraten, wenn unsere Erfahrungen nicht in die schablonenhafte Narrative passen, die unsere Gesellschaft für Lebensgeschichten zur Verfügung stellt.

Die kleine Serie ist jetzt komplett und auf der Seite des Bremer Literaturhauses online, wie auch der sehr empfehlenswerte Text von Gunther Geltinger: Queer – ein seltsames Rauschen, in dem er der Frage nachgeht, was das denn überhaupt sein kann: queere Literatur …

Im Rahmen von Queer Lit(!) findet am 17.11.22 um 19 Uhr im Bremer Wallsaal die Veranstaltung „Quersprechen“ statt, bei der der französische Schriftsteller, Spoken-Word-Künstler und Transmensch Jayrôme C. Robinet und der Schriftsteller Daniel Schreiber ihre Texte vorstellen und über die Bedeutung queerer Sprache(n) als Mittel, die Gesellschaft zu verändern, diskutieren. Moderation: Thorsten Dönges (lcb Berlin)

Über das verwandte Thema „Erst lesen, dann schreiben – oder umgekehrt?!“ habe ich für eine Ausstellungseröffnung einen Text verfasst.

4 Kommentare

  1. Die Art, wie du dein Hauptinteresse, unter dem du ein Buch betrachten möchtest, schon im Titel offenlegst, ist für mich ein wichtiger Hinweis, denn wie oft konzentrieren wir uns auf Inhaltliches und Formales, während der eigene Blickwinkel unausgesprochen bleibt.

    1. Vielen Dank für diese Anmerkung! Was ich oft erlebe (es fällt mir natürlich eher bei anderen, als bei mir auf): Wie stark der eigene Blickwinkel den Eindruck prägt – auch da, wo wir glauben, „objektiv“ zu sein …

      1. Genau! Selten macht man sich ja den eigenen Blickwinkel bewusst, und noch seltener reflektiert man öffentlich darüber. Bei dir ist es anders, und das finde ich so gut.

Ich freue mich über Kommentare!

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..