„Max möchte nicht in die Eisdiele gehen und etwas ‚besprechen’. Mit ‚Franz’. ‚Franz‘ sagt seine Mutter neuerdings, nicht mehr ‚Papa‘. Er möchte es nicht, obwohl er sich schon oft gewünscht hat, an einem der kleinen, glänzenden Tischchen zu sitzen und nicht immer nur am Tresen Eis zum Mitnehmen zu kaufen.
Meistens nimmt Max eine Waffel, aber manchmal kann er sich nicht entscheiden, ob er sein Eis in der Waffel oder im Becher möchte. Der Vater nimmt immer eine Waffel, Antonia auch. Antonia lutscht so vorsichtig und langsam an ihrem Eis, dass sie immer noch einen kleinen Rest in der Hand hält, wenn sie zu Hause ankommen. Der Mutter haben sie manchmal ein Eis in einem Becher mitgebracht, eingepackt wie ein Stück Kuchen, aber meistens wollte sie keins. Oder sie wollte eins, aber sie sollten ihr keins mitbringen. Haben sie dann aber doch gemacht.
Aber heute muss Max sich nicht zwischen Waffel oder Becher entscheiden, heute sitzt er mit seinem Vater an einem dieser glänzenden Tische und soll zwischen drei Kinderbechern auswählen: Spaghetti, Schokolade oder Fantasy. In der Karte sind Fotos von den Bechern und Max schaut sie sich genau an. Max schaut sich die Fotos so genau an, dass sein Vater den Kellner bereits einmal weggeschickt hat. „Wir sind noch nicht so weit“, hat er gesagt und Max fand es nett, dass der Vater ‚wir’ gesagt hat.
„Und?“, fragt der Vater. „Was möchtest du?“
„Ich glaube, ich habe keinen Hunger“, sagt Max.
Max’ Vater winkt dem Kellner. „Ich bestelle dir ein Spaghetti-Eis. Wenn du keinen Appetit hast, lässt du es einfach stehen.“
Auch das hat sich anscheinend geändert: Früher haben Antonia und er oft kein Eis bekommen, obwohl sie unbedingt eins wollten – und jetzt wird es ihm aufgedrängt, obwohl er es gar nicht möchte. Ob das ab jetzt immer so bleibt?
„Oder wenn wir ein Eis bestellen, das wir mitnehmen können? Für uns alle. Auch für Antonia!“
„Auch für Antonia“ ist ein Zauberspruch. Normalerweise findet Max nämlich, dass Antonia schon mehr als genug von seinen Eltern bekommt. Aber die Eltern sind immer ganz aus dem Häuschen vor Begeisterung, wenn er auch an seine kleine Schwester denkt. Und machen dann, was er vorschlägt.
„Ach“, sagt der Vater und schaut Max ernst an. Max versteht nicht, was da los ist. Endlich beendet der Vater sein Schweigen.
„Max, ich wohne nicht mehr mit euch zusammen in der Lahnstraße. Das ist jetzt die Wohnung von dir und Antonia und Simone. Aber es ist nicht mehr meine Wohnung. Ich kann da nicht mehr kommen und gehen, wie es mir gerade gefällt.“
„Und wenn wir mit dem Eis in mein Zimmer gehen? Und uns in meine gemütliche Ecke setzen. Wenn ich dich zu mir einlade? Dann können Antonia und Mama ja selbst entscheiden, wo sie ihr Eis essen wollen.“
Wieder muss der Vater lange nachdenken. „In Ordnung“, sagt er dann. „Heute machen wir es so. Aber ich kann nicht immer zu dir kommen, wenn wir uns sehen wollen. Du musst dich auch daran gewöhnen, zu mir zu kommen.“
„In Ordnung“, sagt nun auch Max und kommt sich für einen Moment wie ein viel älterer Junge vor. Wie dreizehn vielleicht. „Antonia mag immer noch am liebsten Sahne-Kirsch und Melone – daran hat sich nichts geändert.“
„Ich weiß“, sagt Max Vater und bestellt vier Eis zum Mitnehmen.
Dies ist eins von 25 kurzen Kapiteln aus meinem Kinderbuch-Manuskript „Max und Emma“ um das ich mich vor lauter „Wiederholter Verdächtigungen“ nicht so recht gekümmert habe. Aber das wird sich bald ändern!
Und Max lässt sich nicht einmal durch ein Spaghetti-Eis verführen (oder korrumpieren) – das rechne ich ihm hoch an (bei meiner Spaghetti-Eis-Sucht). Er weiß wirklich, was er will. – Eine tolle Geschichte über Trennungskinder – und das Eis-Essen als Versuch, die Familie doch noch einmal mit dem gemeinsamen Erlebnis zu versöhnen.
Viele Grüße, Claudia
Liebe Claudia, freue mich sehr, dass dir die Geschichte gefällt und jetzt hat sie natürlich mit dem Spaghetti-Eis natürlich noch eine spezielle (autobiographische) Verankerung! Ich war selbst ein wenig überrascht, dass sie halbwegs für sich stehen kann, als mir einfiel, dass ich ja (auch) schon mal etwas mit Eisdielen-Bezug geschrieben habe 😉 Herzliche Grüße und Glückwunsch zum neuen Logo – sieht klasse aus!
Liebe Jutta,
da hast Du ja wieder was aus der Hinterhand gezaubert…schön! Mir gefällt schon der Einstieg. Was da schon zwischen den Zeilen erahnbar ist…der Papa, der plötzlich Franz heißt.
Aber könnt ihr bitte, bitte das mit dem Spaghetti-Eis lassen? Es gibt doch so viele andere leckere Eisbecher…
Liebe Birgit, ich freue mich wirklich sehr über deine freundliche Zustimmung. Was diese andere Sache betrifft (angesichts deiner Reaktion möchte ich das betreffende Wort lieber nicht mehr hinschreiben) – da habe ich eine Idee …
Eine Idee für eine Erzählung? Das Spaghetti-Eis-Trauma? 🙂
Liebe Jutta,
hier kommt meine Version einer Eisdielengeschichte. DIe leichten thematischen Überschneidungen zu Deiner Geschichte sind nicht durch die Lektüre deines Textes entstanden, sondern ganz bestimmt durch den gewählten Ort.
Ach ja, so sorry, dieses S-Eis kommt auch drin vor.
Letztes Mal waren da Palmen.
Emil zeigt auf die Regalwand hinter dem Tresen, auf dem sehr sonderbar geformte bunte Glasschalen auf ihren Einsatz warten.
Emil wollte unbedingt rein. Drinnen ist es fast leer. Kein vernünftiger Mensch sitzt bei dem Wetter drinnen. Aber Emil wollte, unbedingt. Ist gleich rein und hat zielstrebig einen Platz ganz hinten belegt. Hier drinnen ist es angenehm kühl und ruhig, nur ganz leise Musik. Eigentlich ganz schön.
Linda, eben noch in die Eiskarte vertieft, schaut auf. Wann warst du denn das letzte Mal hier?
Mit Papa. Letztes Mal.
Aha, mit Papa. Was möchtest du? Nimmst du wieder Spaghettieis?
Nein, ich will den Monsterbecher. Den hatte ich letztes Mal auch.
Hattest du? Das Riesending?
Ja, hatte ich, Papa hat gesagt, ich darf so viel Eis essen, bis mir schlecht wird.
Aha, der Papa, und? War dir nach dem Monsterbecher dann schlecht?
Nee, erst nach dem zweiten, sagt Emil.
Aha, der Papa… sagt Linda da noch einmal. Und denkt an das Päckchen für Emil, vom Papa, das zu Hause auf dem Küchenschrank liegt, und das sie Emil später geben muss, obwohl sie das lieber nicht tun würde.
Heute machen wir das anders. Du kannst was aus der Kinderkarte haben, oder wir teilen uns einen großen Becher.
Och nee. Teilen. Emil verschränkt die Arme vor seiner Brust. Dann will ich doch Spaghettieis.
Linda winkt der Bedienung und bestellt. Also Spaghettieis, und einen Cappuccino für sich selbst, von dem Eis bliebe sowieso die Hälfte übrig, wenn sie nicht mithelfen würde, da kann sie mal stibitzen.
Also, wie war das jetzt mit den Palmen? fragt sie, bevor Emil wieder vom Monsterbecher und vom Papa anfangen kann.
Ja also, legt Emil los. Da waren drei große Palmen, da wo jetzt das Regal steht, und oben drauf haben Papageien gesessen, gelbe, und die sind überall rumgeflogen. Mit beiden Händen zeigt Emil, wo die Papageien rumgeflogen sind. Und die haben überall hingekackt, wie die Wellensittiche von Opa Karl. Hat Papa gesagt.
Das „hingekackt“ kommt so begeistert, dass der Mann, der drei Tische weiter sitzt, jetzt auch mal hinter seiner Zeitung hervorsieht.
Linda versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Hatten sie das nicht schon hinter sich? Aber diese Phase scheint kein Ende zu nehmen. Und der Papa scheint auch noch Spaß daran zu haben.
Emil ist noch nicht fertig. Und dann war da eine Schlange, auf der Kaffeemaschine, weil es da so schön warm ist. Hat Papa gesagt. Und dann ist der Löwe gekommen…
Und dann kommen das Eis und der Cappuccino, und Linda freut sich auf einen Moment der Ruhe, nur die Kaffeemaschine faucht und die Kühlung rauscht und am Fenster werden Bestellungen hineingegeben und Eishörnchen und Becher heraus. Nichts was sie anginge. Emil erzählt auch nicht mehr, was der Papa alles gesagt hat. Er isst ganz still sein Eis und Linda schaut ihm zu, wie er systematisch immer im Kreis herum am Rand entlang die Vanilleeiswürmer verschwinden lässt. Das macht er so konzentriert und pingelig, dass Linda das Stibitzen lieber bleiben lässt. Statt dessen überlegt sie, wo sie eigentlich ihren alten Discman hat, irgendwo im Keller. Der könnte ihr Problem mit dem Päckchen vielleicht lösen. Emil kleckert fast gar nicht mit der Erdbeersoße und zum Schluss ist nur ein winziger Rest Schlagsahne übrig.
Du, Emil, was war denn dann mit dem Löwen, was hat der denn bestellt? fragt sie, als Emil fertig ist. Sie will noch nicht gehen. Es ist gerade so schön friedlich. Und zu Hause wartet dieses Päckchen. Linda schaut noch einmal in die Karte. Vielleicht sollte sie sich doch noch ein Eis bestellen.
Der Löwe?
Ja, der Löwe, von dem du eben erzählt hast?
Quatsch, der kann doch gar nicht bestellen, aber Giovanni hat ihm ganz schnell was fertig gemacht. Mit ganz viel Erdbeersoße. Weil, wenn der Löwe satt ist, ist er nicht mehr gefährlich. Sagt Papa. Und
Giovanni.
Wer ist jetzt Giovanni?
Das ist der Mann, der das Eis macht. Papas Freund. Du weißt aber auch gar nichts.
Nein, weiß sie nicht. Schon lange nicht mehr.
Emil zeigt wieder mit seinem Finger, diesmal auf den Mann, der hinter dem Tresen gerade einen großen Eisbehälter abgestellt hat. Das ist Giovanni.
Hallo Emil, ruft Giovanni und winkt. Wo ist denn dein Papa heute?
Das hört heute nicht auf, denkt Linda.
Papa ist doch in Hamburg. Emil ist aufgesprungen und schlendert zu Giovanni hinter den Tresen. Was hast du für eine Sorte gemacht?
Speziallöwensorte. Mit Hackfleisch. Und Tomatensoße, behauptet Giovanni. Für den Fall, dass der Löwe wiederkommt. Willst du probieren?
Linda kuckt staunend zu, wie sich ihr ungeschickter Emil ganz alleine eine Kugel auf ein Hörnchen praktiziert. Das macht der nicht zum ersten Mal. Dann kommt er zu Linda und hält ihr das Eis hin. Willst Du? Schenk ich dir.
Linda nimmt es und wundert sich ein wenig über Emils plötzliche Großzügigkeit.
Aber Emil hat eine Frage.
Du? Mama? Wann kommt der Papa eigentlich nach Hause?
Ach Emil, du weißt doch, dass der Papa jetzt in Hamburg wohnt.
Doof, ich find das so doof, schreit Emil jetzt und vielleicht wäre jetzt der richtige Moment von dem Päckchen zu erzählen. Vielleicht aber auch nicht. Linda versucht, Emil in den Arm zu nehmen, aber der sperrt sich und läuft dann Giovanni in die Eisküche nach. Emil scheint sich hier ja wirklich gut auszukennen.
Als sie ihm ein paar Minuten später nachgeht, sitzt er neben Giovanni am Arbeitstisch und schält in aller Seelenruhe Bananen.
Emil, was hältst du von nach Hause gehen?
Emil schüttelt nur den Kopf und stopft sich ein großes Stück Banane in den Mund.
Zu Hause liegt ein Päckchen vom Papa, sagt Linda jetzt, sie wäre ja doch nicht drumherum gekommen, und jetzt macht es Emil immerhin ein wenig Tempo.
Der macht jetzt ein bananengedämpftes Geräusch, rutscht vom Stuhl und winkt Giovanni noch einen Gruß zu.
Chiao Kollege, sagt Giovanni noch. Bis zum nächsten Mal.
Chiao. sagt Linda und dann noch leise: Danke, und sie weiß nicht ob er das überhaupt hört und warum sie es überhaupt sagt.
Emil braucht nur wenige Sekunden, um das Päckchen auszupacken. Dann rennt er mit Triumphgeheul ins Wohnzimmer und legt die CD wirklich ganz vorsichtig ein. Einen Augenblick später erzählt Ach-der-Papa mal wieder eine seiner Geschichten, wieder in ihrer Wohnung, und Emil dreht die Stereoanlage wieder so laut, dass Linda die Papa- erzählt-Stimme noch in der Küche hört. Sie nimmt den Schlüssel, sagt Emil nur kurz Bescheid und geht runter in den Keller, der Discman, irgendwo muss er sein. Und der Kopfhörer liegt bestimmt im gleichen Karton.
Liebe Sabine, dieser Text ist ja so schon klasse, aber dass du da auch noch ganz beiläufig den Löwen und den Monsterbecher und eben die ganze „andere Seite“ eingebaut hast, das ist schon ein besonderes Geschenk für die komplette Eisdielen-Geschichten-ErzählerInnen-Crew! Vielleicht sollten wir das öfter mal machen: mit Geschichten auf Geschichten antworten … Herzliche Grüße!
Das wäre, so von außen begeistert gelesen (beide Geschichten), eine tolle Idee! 😀
Liebe Christiane, ich muss gestehen: Die Idee ist nicht ganz neu und ich versuche das auch immer mal wieder in den Werkstätten zu initiieren – aber es muss dann einfach immer sehr viel Glück und Inspiration und Motivation und was es da alles noch gibt zusammenkommen. Aber jetzt, wo ich es es gerade hingeschrieben habe, kommt mir eine Idee! Vielleicht muss ich es begrenzen?! Vielleicht könnte es so gehen. Ich danke dir sehr! Ich werde das auf jeden Fall ausprobieren – und zähle auf dich!
Liebe Jutta, du kannst auf jeden Fall auf meine Neugier und meine Ausprobierwilligkeit zählen.
Experimente dieser Art, die ich bisher gesehen habe, liefen in der Regel leicht aus dem Ruder, was ich nicht zum Besten der Geschichte fand. Vielleicht meinst du das mit „Begrenzen“? (Wobei ich mich ebenfalls an einen Fantasy-Zyklus erinnere, der verschiedene Autoren auf eine gemeinsame Welt losließ … das war lustig (und gut), aber wie hießen die?)
❓
Liebe Christiane, was es ja öfter (und ab und zu auch hier) gibt, sind alle möglichen Formen des „Weiterschreibens“ eines Textes (eines Satzes, einer Szene, einer Idee). Was mir gerade vorschwebt, ist eher das „spielerische Reagieren“ auf einen Text (vielleicht auch auf mehrere). Das ist aus allerlei Gründen tatsächlich schwierig zu realisieren und ich bilde mir gerade ein, dass es hilfreich sein könnte, mit kürzeren Texten zu „arbeiten“. Ich glaube, ich werde bald schon konkreter werden können 😉
Liebe Jutta, neben deinen (so oder anders genannten) Schreibanregungen bin ich auf der Suche nach der Geschichte, die von mir erzählt werden möchte. Wenn du mir da Hilfestellung in irgendeiner Form geben könntest (angefangen bei den absoluten Basics), würde ich das ebenfalls mega-spannend finden. 😉
Liebe Christiane, mein Vorschlag wäre, wir machen uns beide Gedanken: Ich darüber, ob und wie das hier im Rahmen des Blogs gehen könnte und du darüber, wohin es dich „zieht“ beim Schreiben: Was hat sich an Material evtl. schon angesammelt? Gibt es Texte, die dir schreibend leichter von der Hand gehen als andere? Gibt es etwas über das du „immer schon mal“ schreiben wolltest? Solche Sachen … Ach ja, wenn du Lust hast, könntest du das natürlich aufschreiben 😉
Hm, danke. Ich kann generell eins mit Gewissheit sagen: ich habe Erfahrung mit journalistischem Schreiben. Bei allem anderen schwimme ich stark. Ich habe immer die Vorstellung, dass ich mich schon hinsetzen und mir die Finger wundschreiben (-tippen) könnte und würde, wenn ich verdammt noch mal nur wüsste, was. Hört sich an wie eine besonders unelegante Art, sich ein Bein zu stellen, ist es vermutlich auch. Ich komm da bloß nicht raus. Bis jetzt.
Aber ja, wir können die Diskussion des Themas gern aufschieben. 🙂
Ich werde deine Anregung für einen neuen Post gerne aufnehmen – wenn du Lust hast, könntest du aber auch mal schauen, was sich hier auf dem Blog unter „Anfangen“ finden lässt – von aufschieben kann also keine Rede sein 😉
Gern – beide Fälle 😉
Danke!