„Es ist mir vollkommen rätselhaft, warum du da immer noch hinfährst!“, sagte sie, kaum dass er die Küche betreten hatte. Er schaute sich suchend um.
„Ich glaube, ich habe sie im Wohnzimmer gesehen.“
„Was hast du gesehen?“
„Suchst du nicht deine Brille?“
„Die Brille habe ich doch!“ Er tastete die Jacke, die er in der linken Hand hielt, mit der rechten ab, öffnete einen Reißverschluss und streckte ihr ein grünes Brillenetui entgegen.
„Dann liegt der Schlüssel bestimmt in der Schale“, sagte sie und blätterte die Zeitung, die vor ihr auf dem Küchentisch vollständig ausgebreitet lag, um.
„Kommst du?“ Er verstaute das Brillenetui erneut in der Innentasche seiner Jacke.
„Ganz sicherlich nicht!“
„Was soll das heißen?“
„Jetzt tu nicht so überrascht – ich habe dir doch oft genug gesagt, dass ich mir einen Besuch bei deinen Eltern nicht mehr antun werde!“
„Aber dann bist du trotzdem beim nächsten Mal wieder mitgekommen!“
„Jetzt halte ich mich eben endlich mal an meine Ankündigung – das müsste dir doch gefallen!“
„Und was soll ich ihnen sagen?“
„Sag ihnen, was du willst! Sag ihnen, dass ich ihre schlechte Laune und ihr Gemeckere und ihre Missgunst nicht mehr ertrage. Sag ihnen, dass mir davon übel wird. Und sag ihnen bitte auch, dass ich nicht weiter zusehen werde, wie sie dich rumkommandieren und wie einen Hund behandeln. Ach was, sie behandeln dich schlechter als ihren Hund!“
„Das ist doch albern – sie haben überhaupt keinen Hund und das weißt du auch!“ Er machte einen Schritt in Richtung des Küchentischs, stoppte dann aber die Bewegung und stand mitten im Raum. „Du kannst doch nicht behaupten, sie behandelten mich schlechter als einen Hund, wenn sie überhaupt keinen Hund besitzen, nie einen besaßen, ja, nie überhaupt mit irgendeinem Tier unter einem Dach gelebt haben.“ Er machte einen Schritt zur Seite.
„Wenn …, Hannes! Wenn sie einen Hund hätten, dann würden sie ihn unter aller Garantie besser behandeln als dich.“
Er öffnete die Spülmaschine und entnahm ihr ein Wasserglas, das er sorgfältig von allen Seiten mit kaltem Wasser abspülte. Vorsichtig nahm er einen Schluck, verzog den Mund, goss das Wasser aus und kühlte erneut das Glas, bis er einen weiteren Schluck nahm.
„Wenn dein Mutter Sängerin geworden wäre, hättet ihr bestimmt alle immer Kamillentee trinken müssen!“
„Du kapierst es nicht! Du kapierst überhaupt nicht, um was es hier geht, oder?“
„Es sind meine Eltern!“
„Dann sollten sie sich vielleicht auch mal dir gegenüber so verhalten.“
„Ist das nicht vor allem meine Sache?“
„Was?“
„Alles!“
„Was heißt alles?“
„Alles eben! Ob ich da hinfahre und wie ich mich verhalte und ob es mich stört oder nicht und ob ich mich aufrege, wenn mich etwas stört oder ob ich etwas dazu sage oder nicht und ob ich dich mitnehme oder nicht und ob …“
„Ob du mich mitnimmst?“ Sie schlug die Zeitung zu und faltete sie energisch zusammen.
„Ja, ob ich dich mitnehme.“ Er nahm seine Jacke, die er auf der Lehne eines Küchenstuhls abgelegt hatte musterte sie aufmerksam. „Weißt du eigentlich, wie sehr mir das auf die Nerven geht, dass du dich ständig über diese Jacke aufregst, diese ‚Regenjacke‘, wie du sagst. Deine Meckerei, dass ich sie auch trage, wenn kein Wölkchen am Himmel zu sehen ist. Und weißt du was?“
Sie stand auf und schloss das Fenster. Erst, als sie sich wieder ihm zugewandt hatte, sprach er weiter. „Das ist keine REGENJACKE!“
„Ist es nicht?“
„Nein“, sagte er. „Ist es nicht.“ Er nahm die Jacke und verließ die Küche.
Erst, als sie die Wohnungstür klacken hörte, drehte sie sich wieder zum Fenster. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie einen schmalen Streifen ihres Autos sehen, das vor dem Haus parkte. Immer wieder wippte sie auf und ab, aber der Streifen bewegte sich nicht. Nur am Horizont schien sich das übertriebene Blau des Sommerhimmels in ein dunkles Unwetter-Grau zu verwandeln. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.
* Ich hatte über meinen gescheiterten Versuch, von der Buchmesse zu berichten, einen Beitrag geschrieben. Mein ins Auge gefasster Anfangssatz „Es ist mir vollkommen rätselhaft …“ erwies sich als eine echte Nervensäge. Ich hoffe sehr, dass er nun, zumindest vorübergehend, Ruhe gibt und ich würde mich freuen, wenn sich diese Skizze eignen würde, um über Dialoge ins Gespräch zu kommen. Wovon ihr Gelingen abhängt und was sich an diesem vielleicht auch noch verändern ließe …
Zu verändern? Liebe Jutta, was gäbe es an diesem Dialog zu verändern oder gar zu verbessern? Ich musste gerade so schmunzeln und gleichzeitig in mich gehen: Solche Gespräche, wie das Leben sie schreibt, man kennt sie – und fühlt sich dann beim Lesen eigenartig ertappt. Weil man selbst in die gleichen Dialogschleifenfallen tritt, immer wieder…Klasse!
Liebe Birgit, ich freue mich immer über positive Rückmeldungen, ich freue mich besonders über solche von dir – und dieses Mal noch etwas mehr, weil ich diesen „Dialogschleifenfallen“ ohne deine interessiertes Nachfragen vermutlich nicht weiter nachgegangen wäre … Sehr herzliche Grüße aus dem sonnigen Bremen!
Grusel, grusel. Oder: Voll das Leben! Gäbe u.U. auch ein prima Beispiel für die entspannende Wirkung des Dialoge-Schreibens ab. 😉
Vielleicht sollte Jutta sowas bei Eheberatungsstellen anbieten – Paare, die sich Dialoge schreiben (aber bloß nicht gegenseitig zeigen, das könnte tödlich sein).
Irgendwo in meinem Hinterkopf hat sich schon vor geraumer Zeit die Überzeugung eingenistet, dass irgendwer mit meinen Texten irgendwann etwas wirklich Vernünftiges wird anfangen können! Das scheint mir schon sehr nah dran zu sein 😉
Eine hübsche Idee! Jutta könnte die Schreibphase anleiten und die Eheberater sodann den mediativen Part mit wechselseitigem Dialoge-Vorlesen übernehmen… 😉
So etwa habe ich mir das vorgestellt. Therapeutisches Ehedialogschreiben 🙂
Und Ihr beide? Wann seid Ihr mit diesem Programm mal auf der Bühne zu sehen?! Vielen Dank für diese heiteren Rückmeldungen!
Also es war nicht sooo entspannend, aber Spaß gemacht hat es schon 😉 Beste Grüße!
Ich finde es völlig … hm…beeindruckend, zu was so ein halber Satz führen kann, wenn er sich einnistet in irgendeine Synapse und von dort immer wieder mal hierhin, mal dahin springt, auf dass er bloß nicht vergessen, sondern wahr- und ernstgenommen werde, sodass aus ihm schließlich sogar ein Text so richtig aus dem wahren Leben wird. Das hätte ich diesem Sätzchen auf den ersten Blick so gar nicht zugetraut. Hartnäckig war es wohl – und erfolgreich.
Viele Grüße, Claudia
Liebe Claudia, freue mich sehr über deinen Kommentar! Bei mir ist es ganz unterschiedlich, was am Anfang „da“ ist. Manchmal wirklich nur so ein Halbsatz, manchmal der Bruchteil einer „Szene“. Z. B. sehe ich schon seit einigen Jahren ein Paar, das vor dem Fernseher sitzt und die Frau hat auf einmal den Impuls, dass die Wand hinter dem Fernseher nicht mehr weiß (wie alle anderen Wände in allen Räumen, in denen sie bisher gewohnt hat), sein soll, sondern rot (oder grün?) werden soll. Und daraus entwickelt sich dann die Geschichte – über die ich schon auch noch einiges mehr weiß, aber bislang habe ich einfach nicht den richtigen Dreh, den richtigen Ton gefunden. Und manchmal ist es so, dass ich eine Figur in einer speziellen Schwierigkeit stecken sehe … Zum Glück erledigt das Gehirn die meisten der, beim Ausdenken von Geschichten anfallenden, Arbeitsschritte ganz selbstständig, so dass ich eigentlich nur immer mal nachschauen muss, wo es etwas Neues gibt … Herzliche Grüße!
Das ist ja toll, dass Du nur „mal eben“ nachschauen muss, was es neues zu Deinen Geschichten gibt…
Schmunzelnde Grüße, Claudia
Ich bin überzeugt, das ginge bei anderen „eigentlich“ auch so – aber die gucken halt nie nach 😉