Es ist ein großes, wichtiges Thema: Wie finden wir zu „unseren“ Geschichten? Woher wissen wir, dass genau diese eine Idee gut genug ist, um aus ihr einen Roman zu entwickeln oder einen anderen längeren Text. Und was, wenn uns dieses Vorhaben dann nach 5 oder 15 oder 50 Seiten vollkommen idiotisch vorkommt? Todlangweilig, alles schon tausendmal dagewesen, banal und schlecht geschrieben obendrein. Aufhören oder weiterschreiben? Nach einer besseren Idee suchen oder „durchkämpfen“?
Es wird vermutlich niemand, der diese Zeilen liest, wundern, dass es die einfache, alles klärende Antwort auf diese Fragen nicht gibt – denn natürlich ist jeder Fall anders. Und das gilt nicht nur im Hinblick auf unterschiedliche Menschen, das gilt auch für die unterschiedlichen Texte einer Autorin, eines Autors. Thomas Glavinic erzählt in „Meine Schreibmaschine und ich“ von dem ganz unterschiedlichen Vorlauf, den seine Bücher hatten und dass sein dritter Roman „Der Kameramörder“ nahezu vollständig auf dem Traum einer Nacht beruht. Eine verrückte Geschichte, zumal ihm das weder vorher noch nachher noch einmal passierte. Ich erwähne das manchmal in Schreibwerkstätten, aber noch öfter erwähne ich die große Zahl der Manuskripte, von denen Glavinic berichtet, aus denen nichts wurde – einfach weil sie nicht gut genug waren. Denn das wissen viele, die mit dem Schreiben auf eine ernsthaftere Weise beginnen nicht: Wie lange die Suche nach dem geeigneten Stoff oft dauert und dass sie für jeden Text wieder von vorne beginnt.
Siri Hustvedt schildert in einem Gespräch mit Elisabeth Bronfen, das bei Kampa unter dem Titel „Wenn Gefühle auf Worte treffen“, wie sie schon fast 200 Seiten eines anderen Romans geschrieben hatte, als sie den zuletzt erschienenen Roman „Damals“ zu schreiben begann. Irgendetwas stimmte mit diesem anderen Text nicht und sie fand nicht heraus, was es war. „Und dann, während ich grübelte, wie es wohl zu retten sei, hörte ich eine Nachbarin meines Erzählers, deren Gerede durch die Wand drang. Es brauchte ein paar Wochen, aber schließlich wurde mir klar, dass dieses geheimnisvolle Gerede der Nachbarin aus einem anderen Buch kam, einem, das ich wirklich schreiben wollte. Die Zeit und ihre seltsamen Schleifen im Geist sind ein Thema in beiden Büchern, und womöglich musste ich am ersten schreiben und scheitern, um zu lernen, wie das zweite zu schreiben sei. Ich warf das alte Manuskript weg, und dann, als ich einmal mit dem neuen begonnen hatte, wusste ich, es war genau das Richtige, und das Schreiben war mir eine Lust. Wenn es nicht lustvoll ist, weiß man, dass irgendetwas nicht stimmt.“
Siri Hustvedt war zu dem Zeitpunkt ja nicht irgendeine Anfängerin, sie war bereits eine der weltweit angesehensten Autor:innen. Ihre große Erfahrung hatte sie nicht davor bewahrt, viel Zeit und Mühe in einen Text zu investieren, „mit dem etwas nicht stimmte“, aber durch ihre große Erfahrung konnte sie vermutlich eher erkennen, was für ein erzählerisches Potential in dieser geheimnisvollen Nachbarin lag. Und wahrscheinlich war es auch ihre Erfahrung, die es ihr ermöglichte, beherzt neu anzufangen und auf das bisher Geschriebene zu verzichten.
In diesem Gespräch geht Siri Hustvedt auch auf die Entstehung anderer Romane ein und erzählt, dass sie an „Was ich liebte“ sechs Jahre arbeitete. „Ich schrieb es vier Mal von Anfang bis Ende. (…) Ich verbesserte meine Entwürfe nicht. Ich fing von vorne an und schrieb das dasselbe noch einmal und noch einmal und noch einmal. Nachdem ich es auch beim dritten Versuch nicht richtig hinbekommen hatte, atmete ich tief durch, setzte mich an den Schreibtisch , fing wieder von vorne an und schrieb in acht Monaten ein neues Manuskript. Das ist das Buch, das veröffentlicht wurde. Ich hatte mit einer Nadel endlich die Vene getroffen, um es auf eine Formel zu bringen, und nachdem ich das letzte Wort geschrieben hatte, wusste ich, das war’s. Ich hätte mich am liebsten auf den Fußboden meines Arbeitszimmers gelegt und eine Woche lang geweint.“
Es ist die ganz große Ausnahme, dass uns unsere Stoffe und Ideen wie reife Früchte in den Schoß fallen. Dass auf einmal „alles da ist“, wie es bei Glavinics Traum ganz ausnahmsweise der Fall war. In der Regel brauchen wir sehr viel Geduld und Ausdauer – und einen Kompass. Aber dazu dann mehr beim nächsten Mal …
Ich freue mich auf Eure Erfahrungen, Fragen und Anregungen!
Ich lese seit vielleicht zwei Wochen unsichtbar in Ihrem Blog mit – und habe ihn bei mir auch schon mit verlinkt. Heute mag ich mich zeigen, weil ich zurzeit gerade in dem Gespräch Hustvedt-Bronfen lese – nach einer Empfehlung von Ihnen in vergangenen Kommentaren – und jeden Tag viel daraus für mich mitnehme! Vielen Dank.
(Auch aus Ihren Schreibanregungen nehme ich immer mal wieder etwas mit – zum Beispiel „ich erinnere mich“ – in meinem Blog der Text ‚Allein.‘ vom 30. Mai: https://www.bagatellen.net/allein/ )
Ich lese selbst gerade auch wieder darin und bin immer noch immer wieder sehr begeistert, wie klug und anregend dieses Gespräch ist – und wie ermutigend. Vielen Dank für die freundliche Rückmeldung und fürs Verlinken, ich habe mich in Ihrem, in deinem Corona-Tagebuch sofort festgelesen und werde sicherlich mal wieder vorbeischauen …
Das freut mich, wenn du mal wieder vorbeischauen magst, irgendwann.
Einen schönen sonnigen Tag dir!
Hier ist es gerade wirklich hell und sonnig, das wünsche ich dir auch – und ja, ich werde sicherlich mal weiterlesen.