(25) Den eigenen Text kennenlernen

Nicht den Überblick über den Text verlieren hatte ich mir als Titel für diesen Beitrag notiert. Aber das würde ja bedeuten, dass wir in der Regel ganz gut Bescheid wissen über die Texte, die wir schreiben und was in ihnen so vor sich geht – und das denken auch sehr viele Menschen. Aber Text sind oft klüger als ihre Autor:innen (Jurek Becker), sie enthalten mehr Dimensionen oder Ebenen als wir strategisch bewusst in sie hineingeschrieben haben. Oft ist das Schreiben ein vorsichtiges, suchendes Tasten im Nebel und wir können die Größe oder die Eigenheiten des Geländes noch nicht einmal schemenhaft erkennen. „Wer zu schreiben beginnt, hat eine Vielzahl von Entscheidungen bereits getroffen, weiß aber vermutlich nicht welche“, schreibt Howard S. Becker in Die Kunst des professionellen Schreibens über die Entstehung wissenschaftlicher Text – das Gleiche trifft auch (und vermutlich noch mehr) auf die Entstehung literarischer Texte zu.

Und selbst da, wo wir eine recht klare Vorstellung von den zentralen Themen oder Fragen, Handlungsabläufen oder Motiven unserer Texte besitzen, ist es oft schwierig, all die Aspekte gleichzeitig zu berücksichtigen, die für die „Gesamtkomposition“ entscheidend sind. Die Komplexität von Texten, die Anzahl der Faktoren, die sich wechselseitig beeinflussen, wird gerade von Schreibnoviz:innen oft unterschätzt (ich schrieb zuletzt darüber auch in dem Beitrag Angefangen wird mittendrin). Und meist geht es ja auch eine ganze Weile gut. 20, 30, 40 Seiten entstehen oft aus einem großen Anfangsschwung heraus – und dann geht es plötzlich nicht weiter. Aber warum? Die meisten Menschen, die ich in meinen Werkstätten kennengelernt habe, sind sich sicher, dass sie den Grund für dieses immer wieder auftretende Problem kennen: Sie haben einfach die Lust verloren. Oder es fehlt ihnen eben leider an Disziplin. Oder an Talent. Oder sie haben das falsche Genre gewählt.

Aber all das ist meiner Erfahrung nach nur sehr ausnahmsweise der Grund. Fast immer ist der Text in einer unerkannten, unverstandenen Sackgasse gelandet. Ich kann mich noch gut an einen sehr schönen, atmosphärisch starken Textanfang erinnern, den eine Teilnehmerin vor vielen Jahren in einer Werkstatt „drauflos“ geschrieben hatte: Ein junges Paar ist in der Wohnung, die sie gemeinsam vor kurzem bezogen haben und die Frau macht das Frühstück, redet währenddessen vielleicht sogar mit dem Mann, der  aber gar nicht mehr da ist, weil er die Wohnung verlassen hat. Es stand für die Autorin des Textes fest, dass er „für immer“ weggegangen war, und auch dass der Text noch nicht sein Ende erreicht hatte, aber sie hatte keine Idee, wie es weitergehen sollte – und auch die im gemeinsamen Brainstorming entwickelten Vorschläge halfen ihr nicht weiter.

Manche Menschen haben die intuitive Vorstellung, dass sie, sobald sie den Anfang einer Geschichte „haben“, nach der Fortsetzung nur geduldig genug suchen müssen, als handele es sich um einen langen Faden, der irgendwo unterirdisch schon verschlungen vorhanden ist und an dem man nur lange genug ziehen muss. Aber so ist es nicht. Oder jedenfalls nicht immer. Oft landet der Erzählfluss in einer Sackgasse, weil die Autor:innen ihre Held:innen in eine Art von Schwierigkeiten bringen (was ja bei mir grundsätzlich auf Sympathie stößt), für die sie dann keine halbwegs glaubwürdige Lösung finden. Wenn ich mich richtig erinnere, war es im Fall des verschwundenen Mannes so, dass es einerseits einen guten Grund für sein Verhalten geben sollte und dafür, dass er weder in dem Moment noch später der Frau sein Verhalten erklären konnte. Aber vielleicht ist dieser Grund mittlerweile gefunden und die Geschichte hat ihre Fortsetzung gefunden, denn tatsächlich müssen wir manchmal länger über einer solchen ungeklärten Frage „brüten“ und finden plötzlich eine Lösung, an die wir schon gar nicht mehr geglaubt hatten. Vielleicht ist aber auch eine ganz andere Geschichte daraus geworden. Vielleicht verschwindet der Mann gar nicht für immer, sondern nur immer mal wieder heimlich, vielleicht  verschwindet er überhaupt nicht, sondern es ist etwas ganz Anderes, das die hoffnungsvolle Zuversicht der beiden bedroht.

Ich glaube zu den wichtigsten „Lernschritten“ beim Schreiben gehört es, den Text als etwas Vorläufiges zu betrachten und Alternativen zu ihm durchspielen zu können. Was würde geschehen, wenn die Handlung früher oder später einsetzt? Wenn es die Frau ist, die verschwindet. Oder vielleicht lebt auch „nur“ einer von den beiden in der ständigen Sorge, das könne passieren? An den unterschiedlichen Schrauben eines Textes drehen zu können, ist mehr als alles andere Übungssache und weil es so viele Schrauben gibt, weil Texte etwas so unglaublich komplexes sind, ist es manchmal gut, sich dem entstehenden Text von unterschiedlichen Seiten zu nähern.

Was sich bei Romanen (auch bei literarisch ambitionierten) eigentlich immer anbietet: die Figuren auf einem großen Bogen Papier unterzubringen und ihre Beziehungen, ihre wesentlichen Eigenschaften, ihre Handlungsmotive zu notieren und vielleicht auch ob sie sich, wie sich verändern im Laufe der Geschichte. Was ebenfalls immer sinnvoll ist: einen Zeitstrahl anzufertigen und zu fragen Was passiert in welcher Reihenfolge? und davon zu unterscheiden: Was erzähle ich in welcher Reihenfolge? Oder auch einfach mal zu sammeln, was wir schon wissen über die zu erzählende Geschichte und welche Fragen noch offen sind. Als Beispiel füge ich hier das Foto eines Packpapierbogens ein, auf dem ich mir vor ein paar Jahren versucht habe Klarheit über einen entstehenden Text zu verschaffen.

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Auf den gelben Zetteln stehen Ereignisse, von denen ich wusste, dass sie in der fiktiven Figurenwelt stattgefunden haben und von denen manche, aber sicherlich nicht alle auch als „Szenen“ in den Text Eingang finden würden. Würde ich die Arbeit an diesem Text wiederaufnehmen, dann würde ich vermutlich zu meinem zweitliebsten Hilfsmittel (nach Packpapierrollen) greifen: Karteikarten. Ich würde für jede Szene, die ich geschrieben habe (und wahrscheinlich auch für diejenigen, von denen ich sicher glaube, dass sie Eingang in den Text finden werden) eine Karteikarte anfertigen und der Szene eine Titel geben und vielleicht noch stichwortartig zusammenfassen, was passiert (für Fortgeschrittene: warum/wofür die Szene wichtig ist). Vielleicht würde ich unterschiedlich farbige Karteikarten nehmen, je nachdem, welche der Personen gerade im Fokus steht. Erstaunlich vieles klärt sich schon, wenn man diese Karteikarten auf dem Tisch oder Fußboden ausbreitet und so den Text als Ganzes vor sich hat (oder wenn man probeweise mal die Reihenfolge der Szenen ändert).

Ich selbst verbringe oft fast so viel Zeit wie mit dem Schreiben, mit Versuchen, die Struktur, die innere Logik oder die Möglichkeiten eines entstehenden Textes zu verstehen. Oder manchmal geht es auch ganz schlicht darum, mir zu vergegenwärtigen, was ich eigentlich schon erzählt habe, welche Themen oder Fragen in einem Text schon verhandelt wurden. Und weil auch die Beiträge dieser Virtuellen Schreibwerkstatt in meiner Vorstellung einer Gesamtkomposition folgen und weil ich zuletzt ein bisschen den Überblick verloren habe, habe ich mir gestern mit Karteikarten wieder einen Überblick verschafft – und dabei das Thema für den heutigen Post gefunden.

Texte sind wie Ausflüge, wie Reisen, manche sind wie langwierige Expeditionen. Auf einer solchen Expedition war ich in den vergangenen Jahren unterwegs mit einem Text, den ich schreiben wollte, schreiben musste und den zu schreiben mir zugleich lange Zeit unmöglich war, vor allem wegen seiner ungeheuren, mich immer wieder überfordernden Komplexität. Gelegentlich werde ich mehr davon erzählen, aber heute möchte ich vor allem mit diesen Bildern einen Eindruck davon vermitteln, dass auch dieser Teil der Arbeit am Text kreativ ist, dass er Freude bereiten kann, dass es dafür keine Regeln oder klar definierten Abläufe gibt.

Ich freue mich auf Eure Fragen, Hinweise, Gedanken!

4 Kommentare

  1. Dieser Beitrag kommt mir sowas von genau richtig. Ich habe mit einem längeren Text begonnen und schon feststellen müssen, dass das einfach schreiben und irgendwas wird schpn herauskommen nicht funktioniert. Ein Plan muss her. Ich habe da eine Tür im Auge, die von so einer Deko mit vielen kleinen Zetteln sehr profitieren würde 😇🙃

Ich freue mich über Kommentare!

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