Tag 2: "Erste Sätze" weiterschreiben

Menschen, die mit dem Schreiben beginnen und denen „nichts einfällt“, haben meist das Gefühl eines „zu wenig“ . Zu wenig Ideen oder Phantasie oder (immer als Sorge in der Nähe lauernd) zu wenig Talent. Viele Kreativitätstechniken oder -tipps gehen von der umgekehrten Annahme eines „zu viel“ aus und beschränken daher die ansonsten unendliche Anzahl von Möglichkeiten. Auch Schreibanregungen funktionieren so, indem sie ein Thema oder eine Figur, eine Szenerie oder ein paar Reizwörter vorgeben – oder einen (ersten) Satz.

Wenn ich mich für eine einzige Schreibanregung entscheiden müsste, dann wären es Erste Sätze. Gute Erste Sätze lassen einerseits noch fast alles offen und setzen uns gleichzeitig auf eine Spur, lassen eine Vorstellung oder Erwartung in uns aufsteigen – die sich dann später vielleicht gar nicht erfüllt, die uns aber hineinzieht: normalerweise ins Lesen, aber wenn wir es wollen auch ins Schreiben.

Keine Schreibanregung funktioniert für jede und jeden jederzeit, deswegen stelle ich in dieser Woche ganz unterschiedliche Anregungen vor und deswegen empfehle ich Euch, im Auge zu behalten, welche Schreibanregungen Euch jeweils den Einstieg erleichtern. Heute möchte ich drei Erste Sätze zur Auswahl anbieten:

„Und beinahe wären sie nicht gefahren“, sagte Frances.“ (Alice Munro Offene Geheimnisse)

„Ich erinnere mich, wie ich innehielt, mitten in der Bewegung.“ (Eugen Ruge Cabo de Gata)

„Wie die meisten Menschen lebte ich lange bei meiner Mutter und meinem Vater.“ (Jeanette Winterson Orangen sind nicht die einzige Frucht)

Auch hier gilt: Es gibt nichts „richtig“ zu machen. Wenn jemand eine Geschichte einfällt, in der sich eine Alice und eine Jeanette ineinander verlieben oder in der Eugen seinem Vater eine Orange klaut – wunderbar! Und dann habe ich bewusst zwei Sätze ausgewählt, die beides ermöglichen: einen fiktiven oder einen autobiografischen Text oder natürlich irgendetwas dazwischen.

Meine Erfahrung ist: Ein bisschen draufrumkauen ist gut. Nicht sofort die Flinte ins Korn werfen. Sich auf das Wagnis einlassen, das kreative Prozesse immer auch bedeuten. „Schreiben ist meistens unbewust. Ich weiß nicht, woher die Sätze kommen. Wenn es gut läuft, weiß ich es weniger, als wenn es schlecht läuft“ (Siri Hustvedt). Aber wenn keiner dieser Sätze auch nur den Hauch von Schreibfreude auslöst, wenn er keine weiteren Sätze aufsteigen lässt, dann spricht natürlich nichts gegen einen beherzten Griff ins eigene Bücherregal und die Suche nach einem ersten Satz, der einen Schreibimpuls bei Euch auslöst.

Ich freue mich auf Erfahrungsberichte, auf (kürzere) Texte oder Textauszüge und möchte die echten Anfänger:innen unter Euch unbedingt nochmal daran erinnern: Es geht in dieser ersten Phase nur (wirklich nur!) ums Ausprobieren und Materialsammeln, ums Drauflosschreiben und sich selbst überraschen lassen, von dem, was auf dem Papier oder in der Datei landet.

Viel Freude dabei!

33 Kommentare

  1. Liebe Jutta!
    Na, dann starte ich mal, als Erster!
    Liebe Grüße vom Frühstückstisch,
    Juergen

    „Ich erinnere mich, wie ich innehielt, mitten in der Bewegung.“ (Eugen Ruge Cabo de Gata)
    Robin, Du Winzingling,
    So nahe an meinem Fuß sitzt Du
    Dir geht es wohl um das Futter
    mir um was anderes
    Deine kleine, rote Vogelbrust leuchtet.

    1. Lieber Jürgen, ich habe gestern ein Buch bestellt, das hat den Titel: „Teaching for people, who prefer not to teach“ (https://www.independentsunited.co.uk/product/teaching-manual) und das fiel mir ein, als ich mich gerade an deinem kleinen Text erfreute! Viel wichtiger (das ist auch in „normalen“ Werkstätten so), als dass ich immer wieder betone, dass „alles erlaubt ist“, ist ja, dass genau das geschieht – und dafür danke ich dir sehr!

  2. Und hier meine Mini-Fortsetzung:

    „Ich erinnere mich, wie ich innehielt, mitten in der Bewegung.“ (Eugen Ruge Cabo de Gata)

    Wie erstarrt war ich, wie der Hase, der vor dem Fuchs sitzt, wie fest gefroren. Deine Blicke nagelten mich quasi am Sessel fest, deine Worte fesselten mich. Und so blieb ich dort sitzen, erstarrt, und lauschte deinen Sätzen, die mein Herz durchdrangen, mich bis ins Innerste trafen und gleichzeitig mein Sein, mein Wesen von innen nach außen stülpten. Ich wusste, dass nach diesem Moment nichts mehr so sein würde wie bisher und ich spürte, wie eine stille Träne meine Wange hinunter rann …..

    Zudem habe ich mich von allen Satzanfängen, die du als Beispiel genannt hast, inspirieren lassen und ein kleines Gedicht dazu geschrieben:

    ich erinnere mich
    wie ich inne hielt
    im abschied
    die hand erhoben
    die bewegung erstarrt
    die sonne leuchtete
    wie orangen
    auf uns herab
    ein vogel schrie
    einen letzten gruß
    mein herzschlag stolperte
    als ob ich es ahnte
    du kehrtest nicht zurück …

  3. Ich erinnere mich, wie ich innehielt, mitten in der Bewegung. Dann zog ich die Wohnungstür zu und hatte mich ausgesperrt. Das Innehalten war die Warnung gewesen, mich zu versichern, ob ich den Schlüssel eingesteckt hätte. Etwas in uns ist immer klüger als wir selbst. Doch seine Stimme ist zu leise.

    1. Ich habe, als ich diesen Satz von Eugen Ruge auswählte, nicht überlegt, wie ich selbst weiterschreiben würde. Aber jetzt, wo ich deine Zeilen lese, bin ich sicher, dass „innehalten“ bei mir eine ähnliche Assoziation ausgelöst hätte.Und die Stimme, die zu leise ist, gefällt mir sehr.

  4. Ich erinnere mich, wie ich innehielt, mitten in der Bewegung.

    Ich schaute sie an. Sie saß still da. Ein Lufthauch fuhr durch ihr fragiles Netz und ließ die kleine Spinne ganz leicht darin federn. Die feinen Fäden des Spinnennetzes schimmerten in der Nachmittagssonne, die durchs Fenster lugte. Mein Arm warf einen langen Schatten an die Wand.

    Noch immer den Hausschuh in der Hand ließ ich meinen rechten Arm endlich sinken.
    „Fang Mücken und bleib wo du bist“, sagte ich leise und zog den Schuh wieder an.

    1. Manchmal (fast immer) werden wir dafür belohnt, wenn wir eine Idee (oder etwas, aus dem eine Idee werden könnte) ein bisschen mit uns rumtragen, sie sich „einnisten“ lassen … Vielen Dank fürs Teilen des schönen Textes und deiner Erfahrung bei der Entstehung!

  5. Liebe Jutta, aus dem Anfangssatz ist der Anfang einer möglicherweise langen Geschichte geworden. Das ist wirklich eine sehr interessante Technik, die mich auch sprachlich total beeinflusste.
    Das Mädchen
    Wie die meisten lebte ich lange bei meiner Mutter und meinem Vater. Sie waren gute Eltern, versuchten es zumindest, glaube ich. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals trachteten, mich unter dem Vorwand, doch endlich einen Beruf zu ergreifen oder zu heiraten, aus dem Hause ekeln wollte. Sie hielten mich aus und ich sie.

    Meine Mutter war schon alt gewesen, als mein Vater sich ihr zuwand und in einem letzten Versuch, diesen, seinen Familienzweig nicht aussterben zu lassen, um ihre weiche Hand anhielt in der Hoffnung, dass diese brave Frau ihm noch einen Sohn schenken würde. Die Chancen standen nicht schlecht, war sie doch die einzige Tochter unter sieben Brüdern. Sie gab ihm ihre Hand, ohne zu zögern, war es doch auch ihre letzte Möglichkeit, dem Stigma der alten Jungfer zu entgehen. Sie begegneten sich sicher nur das eine Mal in der Hochzeitsnacht, wo mein Vater sich durch das Loch im züchtigen Laken wühlte, fand, was er brauchte und mich zeugte.

    Neun Monate später erwies sich der Stammhalter als zarte Tochter. Sie waren nicht vorbereitet auf mich und hatten selbst keinen Namen zurechtgelegt. Bis zum dritten Lebensjahr trug ich Knabenkleidung und spielte ich mit Bauklötzen und Autos, die der Vater vorausschauend schon während der Schwangerschaft gehortet hatte. Erst als ich aus allem herausgewachsen war, trugen sie meinem Geschlecht, wenn auch widerstrebend, Rechnung.

    Ich blieb das einzige Kind, was mich oft sehr einsam sein ließ und es mir schwer machte, anderen mit der Leichtigkeit zu begegnen, die Fremde untereinander spüren, bevor sie sich entschließen Freunde zu werden. Den Menschen, die ich in meinem Leben begrüßen durfte, näherte ich mich mit Inbrunst, ignorierte jeglichen gesellschaftlichen Anstand, jene nicht ausgesprochenen taktischen Wendungen, mit denen man das fremde Terrain sondiert. Ich war ein offenes Buch für sie, wendete auch für den uninteressierten Betrachter freiwillig Seite um Seite um und stieß so Manchen damit vor den Kopf.

    Wurde ich als Kind noch als kess und vorlaut wahrgenommen, änderte sich das Verhalten, als ich langsam zur Frau wurde. An dem Abend, als ich das erste Mal menstruierte und weinend auf dem Bett lag, eine Wärmflasche auf den verkrampften Gedärmen, sprach meine Mutter mit mir. Es schien das erste Mal zu sein, dass sie mich wahrnahm. Geduldig erklärte sie mir, was in meinem Körper passierte und worauf ich nun zu achten habe. Sie zeigte mir die Hilfsmittel, die Frau für diese Tage immer im Haus haben sollte und wie man sie verwendete. Und sie erklärte mir die Sache mit dem Kinderkriegen, etwas, was hinter vorgehaltener Hand schon mein Ohr erreicht hatte. Begierig lauschte ich den Beschreibungen zu dem Prozess, den meine Mutter mit gesenkten Augen und voller Schamesröte flüsterte.

    Ich muss gestehen, dass ich es kaum erwarten konnte, in das passende Alter und den Besitz eines Mannes zu kommen, um diese Art der körperlichen Aktivität auszuprobieren.

    Ich war ein schönes Kind gewesen und ich wurde zu einer schönen Frau, wenn ich die Blicke, die mir die Herren zuwarfen, richtig zu deuten wusste. Sie näherten sich vorsichtig, umtanzten und umgarnten mich, sendeten mir Blumen und Geschenke.

    War die mangelnde Zurückhaltung in meiner Kindheit ein Problem gewesen, so wurde nun der Abstand mein bester Freund. Je mehr ich mich zurückzog, desto hartnäckiger wurden die Avancen, die mir gemacht wurden.

    An dieser Stelle ende ich, da ich fürchte, dass da sonst ein erotisches Buch draus wird 😉

    Liebe Grüße
    Alice

    1. Liebe Alice, das ist wirklich eindrucksvoll, wie stimmig du diesen Anfangssatz weiterschreibst und sich Figuren entwickeln, die bei einer anderen Tonlage sicherlich ganz andere geworden wären. Mir ist, als ich deinen Text las, ein anderer sehr berühmter „Eltern“-Anfang eingefallen: „Ich habe oft versucht, mich mit der Gestalt meiner Mutter und der Gestalt meines Vaters auseinanderzusetzen, peilend zwischen Aufruhr und Unterwerfung. Nie habe ich das Wesen dieser beiden Portalfiguren meines Lebens fassen und deuten können.“ (Peter Weiss: Abschied von den Eltern). Viele Grüße!

      1. Liebe Jutta!
        Ich danke dir fürs Lesen und das Feedback. Ja, dieses anders und doch genauso sein wollen wie die Eltern ist ein Problem, mit dem jeder von uns sicher irgendwann konfrontiert wurde. Und ja nach Jahrzehnt oder Jahrhundert, in dem die Geschichte angesiedelt ist, variieren die Konfliktpunkte.
        Ich danke dir sehr für deine virtuelle Schreibwerkstatt, es macht Spaß (und ist in dieser Zuhausebleibzeit eine wunderbar kreative Strukturierung)
        Liebe Grüße
        Alice

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