Ich hatte dieses Buch vergessen. Obwohl es mir einmal sehr viel bedeutet hat. Es fiel mir noch nicht einmal auf Anhieb wieder ein, als Birgit Böllinger, die geschätzte Blogger-Kollegin von Sätze und Schätze, die Frage stellte: Welches Buch hat dich zur Leserin gemacht? Die Frage setzte sich in meinem Kopf fest – vielleicht, weil ich Schriftstellerin bin. Weil sich in die Texte, die ich schreibe, die Bücher, die ich gelesen habe, einschreiben. Tagelang durchforstete ich mein Gedächtnis nach wichtigen Lektüren, bis mir dieses Buch wieder einfiel: „Der Schwur von Kolvillag“ von Elie Wiesel. Da ist es passiert, dachte ich. Wie hatte ich dieses Buch vergessen können, obwohl es mir einmal so viel bedeutet hatte? Vielleicht weil es mir so viel bedeutet hatte? Enthielt es ein Wissen, das mir zu nah gekommen war, mich zu tief berührt hatte?
Seltsamerweise hatte ich nämlich nicht nur die Existenz dieses Buches vergessen, ich konnte mich auch kaum an seinen Inhalt erinnern. Mit einer gewissen Bangigkeit las ich es. Groß war meine Erleichterung, als der Text einer erneuten, erwachsenen Lektüre standhielt. Nein, nicht nur standhielt, er begeisterte mich wieder. Was für ein erschreckend aktueller Text, dachte ich mehrfach, während ich ihn las. Elie Wiesel erzählt von einer Kleinstadt, in der Juden und Christen halbwegs friedlich zusammenleben. Dann verschwindet ein Junge. „Eigentlich“ glaubt niemand, dass wirklich „die Juden“ dahinterstecken – schließlich ist der Junge seinem gewalttätigen Vater schon öfter weggelaufen. Aber dann schaukeln sich vorhandenes Ressentiment, Verbitterung, Neid und Lust an Randale und Gewalt so hoch, dass die Katastrophe ihren Lauf nimmt.
Es ist in seiner Aktualität unheimlich und bedrückend zugleich, wie genau und detailliert der Text die Verbreitung von Lügengeschichten schildert, wie er die Mechanismen bloßlegt, die schließlich zum Ausbruch der Gewalt, die zu einem Pogrom führen. In ihrer Verzweiflung angesichts der schier endlosen Geschichte von brutaler, grausamer Verfolgung leisten die wenigen Überlebenden schließlich einen Schwur: Sie werden schweigen! Wenn offenbar keine Aufklärung, keine Allianzen, kein noch so vorsichtiges und rücksichtsvolles Verhalten Juden zu schützen vermag, dann … dann hilft vielleicht nur dieses absurd anmutende, dieses scheinbar unmöglich zu leistende Opfer. Sind die Gewalt und das anschließende Bezeugen der Gewalt so ineinander verwoben, dass nur das Schweigen diesen Kreislauf zu unterbrechen vermag? Statt Zeugnis abzulegen, statt die Erinnerung zu bewahren, fühlen sich die Überlebenden von Kolvillag verpflichtet, zu schweigen.
Wenige Monate, nachdem ich den Text wiedergelesen hatte, starb Elie Wiesel am 02. Juli 2016. Ich nahm seinen Tod zum Anlass, um auf diesem Blog über das Buch zu schreiben, um darauf aufmerksam zu machen, es weiter zu empfehlen. „Der Schwur von Kolvillag“, dieser Text über das Erinnern, über das Schweigen und Erzählen sollte nicht, durfte nicht seinerseits dem Vergessen anheimfallen, so ungefähr empfand ich es. Aber was konnte ich tun?
Ich spielte mit dem Gedanken an eine „Lese-Kampgane“. Vielleicht würde ich Autor.innen, Blogger.innen dafür gewinnen können, ihre Lese-Eindrücke zu schildern, als Gast-Beiträge auf diesem Blog oder wo auch immer. Oder könnte ich den Text irgendwie in meinen Schreibwerkstätten einsetzen? Oder eine Lesung organisieren, in der er als Ganzes vorgelesen würde?
Ich begann antiquarische Exemplare des Buches zu kaufen, das neu gar nicht mehr lieferbar ist (auch das kam mir nicht richtig vor, dass dieses Buch, das in den 80er Jahren offenbar fast 100000 mal verkauft wurde, nun zu Cent-Beträgen in den einschlägigen Portalen gehandelt wird). Ich erzählte einem Freund von meiner Sammelei und er besorgte mir weitere Exemplare (vielen Dank, Rolf!).
Seitdem sind drei Jahre vergangen, ohne dass ich eine dieser Ideen in die Tat umgesetzt hätte. Unzufrieden nahm ich mir immer wieder vor: anläßlich des nächsten Geburtst- oder Todestages von Elie Wiesel machst du endlich etwas mit diesem Buch! Es durfte doch nicht wahr sein, dass ich dafür nicht die notwendige Zeit oder Energie aufbrachte.
Aber ich glaube, daran liegt es nicht. Ich glaube mittlerweile, dass all diese Ideen, die ich hatte irgendwie zu „laut“ waren, für das, was mich mit diesem Text verbindet. Und deswegen erzähle ich jetzt nur diese für mich selbst ein bisschen rätselhafte Geschichte meiner eigenen Verbindung zu diesem Text. Vielleicht macht andere das neugierig auf den „Schwur von Kolvillag“. Vielleicht entsteht nun auf diesem kleinen Umweg tatsächlich der Austausch, den ich mir immer noch wünsche. Ein Austausch über Lesarten, über Eindrücke, über seine Aktualität (vielleicht auch über das, was seine Aktualität beeinträchtigt) oder über die Art und Weise, wie dieser Text vom Schweigen erzählt und zugleich der „Unerzählbarkeit“ trotzt.
Ich freue mich über Reaktionen per Mail oder als Kommentar oder natürlich auf anderen Blogs. Wer selbst kein Exemplar hat oder findet, der oder die kann gerne eine E-Mail mit ihrer/seiner Adresse schicken – dann stecke ich ein Exemplar des Buches in einen Umschlag und schicke es los.
Liebe Jutta, erst einmal herzlichen Dank für die Erinnerung an unseren kurzen Austausch damals über dieses Buch. Und ja, es ist von – leider – von einer ungeahnten Aktualität, denkt man an die Übergriffe auf Flüchtlinge, Juden, Andersdenkende, die wieder überhand nehmen. Wie oft das auch auf einem Nährboden entsteht, der an Pogrome erinnert. Von daher wäre es schon wünschenswert, auf solche Bücher immer wieder aufmerksam zu machen – wenn daraus vielleicht auch keine Lesekampagne entsteht, so ist es doch gut, immer wieder über diese Bücher und ihre Botschaft zu schreiben.
Liebe Birgit, du hast vollkommen recht. Ich muss gestehen, dass ich zu denen gehöre, die vieles von dem, was gerade um uns herum passiert an Gewalt, an Einschüchterung, an vorauseilendem Gehorsam gegenüber den Rechten in den Medien noch vor ein paar Jahren für unmöglich gehalten hätte. Und so vieles andere auch. Aber jetzt ist es so, wie es ist und wir müssen handeln und aufstehen und widersprechen – und vielleicht auch die Bücher lesen, die uns besser verstehen lassen, was da eigentlich passiert …
Ja, Bücher lesen und darüber schreiben – das nicht nur, um sich anderen mitzuteilen in der Hoffnung, dass das den einen oder anderen bewegt oder auch eine neue Sichtweise auslöst, sondern – und das hätte ich vor sieben Jahren, als ich mit dem Bloggen begann, auch nicht für möglich gehalten – auch wegen des „Jetzt erst recht!“. Denn mittlerweile ist es so, dass bei mir, wenn ich ein Buch zum Thema Holocaust veröffentliche, regelmäßig auch ätzende Kommentare ankommen. Zwar nicht viele und nicht so bedrohliche, wie sie mittlerweile Journalisten oder Kommunalpolitiker erhalten, aber man (ich) hat das Gefühl, da sind Leute, die wollen einen einschüchtern und mundtot machen. Mit mir jedoch nicht. Herzliche Grüße Birgit
Genau so ist es! Und vielleicht bedeutet mir dieses Buch auch deswegen so viel, weil es nicht nur von Gewalt und Brutalität und ungeheurer Unmenschlichkeit erzählt, sondern eben auch von Großzügigkeit und Würde und großer Menschlichkeit.
liebe jutta, das liest sich spannend und interessant, was du über das buch schreibst und darüber, was du bzw. was dich damit verbindet. ich konnte leider keine leseprobe finden, käme auch vorläufig vermutlich nicht zum lesen, erst in ein, zwei monaten. ich hätte so gern mal einen auszug gelesen. ich kann nicht alles lesen, der stil spielt für mich schon eine rolle, ich weiß nicht, wie es dir da geht? jedenfalls … hast du vielleicht lust, etwas aus dem buch zu posten? vom anfang, aus der mitte, whatever, so dass ich/man einen kleinen eindruck bekommt? das würde mich sehr freuen. liebe grüße
Liebe Wolkenbeobachterin, ich würde deinem Wunsch gerne nachkommen, aber eine aussagekräftige Leseprobe brächte mich, wenn ich das richtig sehe, in Konflikt mit dem Urheberrecht. Aber wenn du mir deine Adresse schreibst (juttareichelt@aol.com), schicke ich dir sehr gerne ein Exemplar – und wenn dir der Ton oder was auch immer nicht zusagt, könntest du es in einen Bücherschrank „auswildern“. Ich muss morgen sowieso zur Post 😉
Liebe Jutta, ich habe das Buch bestellt, es ist gebraucht noch erhältlich. Gern schreibe ich dann etwas dazu. Das Thema Schweigen in diesem Zusammenhang liegt mir sehr auf der Seele. Liebe Grüße.
Das freut mich wirklich sehr und ich bin gespannt auf deine Leseeindrücke … Liebe Grüße und auf bald!
Liebe Jutta,
bisher konnte ich keinen Zugang zu dem Buch finden, es ist so anders als die Bücher, die ich von Elie Wiesel kenne. Ich habe es erstmal beiseite gelegt und warte auf den richtigen Moment, der sicher kommen wird. Jedes Buch hat seine Zeit. Liebe Grüße und ich mich melde mich wieder!
Das kenne ich auch sehr gut von vielen Büchern! Und ich kenne mittlerweile auch mehrere Menschen, die keinen rechten Zugang zu dem Text finden, so dass ich mich manchmal frage, ob ich ihn vielleicht nur deswegen noch immer habe, weil ich vor langer Zeit gefunden habe?! Liebe Grüße und vielen Dank für die Rückmeldung!
Gern. Sobald ich mich mit dem Buch beschäftigt habe (eigentlich lese ich Elie Wiesel gern), melde ich mich wieder. Liebe Grüße und bleib gesund!
Liebe Jutta, auf deine Anregung hin hatte ich vor Jahren das Buch gekauft.. Und dennoch nicht gelesen. Das werde ich mir dann für das nächste Wochenende vornehmen. Taj, was das Gedächtnis so treibt! Ich war sicher, es sein Buch über die shoah…
Das freut mich sehr. Und ja, doch: Es ist ein Text über die Shoah … würde ich sagen. Aber auf eine sehr indirekte, allegorische Weise. Ich bin sehr gespannt, wie du es lesen wirst …
In „Gott der Stadt“ gibt es genau diese Geschichte, allerdings mit einem Abiturienten, der verschwindet. Den Juden des Dorfes wird dieser Mord, als Ritualmord angehangen. Furchtbar finstere Zeiten, und es sieht so aus, als schlafe die Unmenschlichkeit nur und kommt zum Vorschein, wenn die Zustände es zulassen.
Vielen Dank für diesen Hinweis, das werde ich auf jeden Fall lesen! Was bei Elie Wiesel so bestürzend ist: Dass es „eigentlich“ alle besser wissen, dass niemand wirklich glaubt, dass es „die Juden“ waren. Und wie es immer unwichtiger wird, was wirklich geschehen ist. Die „Wahrheit“ spielt keine Rolle mehr. Wie bei Trump, wie bei … so vielen anderen gerade wieder.