„Disabled Theater“ und die Frage: Können die das denn?

Am vergangenen Wochenende fand in Bremen das mittenmang-Thater-Festival statt (hier geht es zu der Ankündigung, die ich dazu geschrieben hatte – dort finden sich auch weitere Infos) Es gab eine Vielzahl äusserst sehenswerter Produktionen, eine davon war das Stück „Disabled Theater“ (Theater Hora, Zürich – Jerome Bel). Der Rezensent des Weser Kurier sah darin kaum mehr als ein Stück, das sich auf dem schmalen Grat zwischen „Selbstentblößung und Sozialarbeit“ bewegt. Ich habe diese Kritik zum Anlass genommen, meine eigenen Gedanken zu der Aufführung aufzuschreiben:

Wenn Menschen mit Behinderungen auf die „Bühne treten“, steht (zumindest hinter vorgehaltener Hand) schnell die Frage im Raum: Können die das denn?
Und immer wieder kommt es zu der erstaunten Erkenntnis: „Die können ja viel mehr, als ich gedacht habe“. Eine solche Überraschung zeigt auch der Rezensent des Stückes im Weser Kurier: „ … vor allem die Beschreibungen ihrer Behinderung gelingen erstaunlich reflektiert.“
Eine weitere Überraschung erlebt eventuell, wer darüber nachzudenken beginnt, was „normale“ Schauspieler:innen können – und dass es sich dabei um sehr unterschiedliche Kompetenzen handelt.
Manche davon werden geistig behinderte Schauspieler:innen meist nicht oder jedenfalls längst nicht so gut beherrschen, wie die nichtbehinderten Profis: das Lernen großer Textmengen etwa oder die Vorstellung, die Einfühlung, wie es ist, jemand anderes zu sein. Das mutige „Herzeigen“ und Darstellen emotionaler Befindlichkeiten wiederum können manche Schauspieler mit (geistigen) Behinderungen in einer Intensität und mit einer Wucht und Energie, dass vermutlich die meisten Zuschauer:innen und Regisseur:innen ihre Freude daran haben. Und dann gibt es hin und wieder auch Momente auf der „inklusiven“ Bühne, die einen Charme und eine Zartheit besitzen, die man nicht „herstellen“, nicht inszenieren kann, Geschenke des Augenblicks.

Soweit, so normal, wenn es um „behindertes Theater“ geht. Und nun also „Disabled Theater“, das weitgereiste Stück, das entstanden ist aus der Anfrage des Zürcher Theater Hora an den Choreographen Jerome Bel, ob er bereit sei, einen Workshop zu geben. Aus dem Workshop und den dabei verwendeten Aufforderungen an die Akteure wurde ein Stück, das Theatergeschichte geschrieben hat: eingeladen zu sämtlichen großen Festivals, aufgeführt auf der documenta und in Avignon, beim Berliner Theatertreffen und der Ruhrtriennale.

Und warum? Was ist das Besondere daran? Warum polarisiert dieses Stück so sehr, entlässt kaum jemanden gleichgültig? Vielleicht weil sich Jerome Bel für keine der Fragen zu interessieren scheint, die gerade noch als übliche Verdächtige inklusiven Theaters identifiziert wurden und in der immer noch „das Normale“ die stets mitgedachte Referenz bildet. Dieses Stück zeigt nicht oder eher beiläufig, fast unwillig, was Behinderte „können“. Auch oder anders können. Fast oder ziemlich gut oder gar nicht so schlecht können.

In diesem Stück stehen Menschen uns gegenüber und wir sehen zunächst vor allem – Behinderte. „Sie“ und „wir“ – so fängt es an. Damit, dass „sie“„uns“ ansehen, wodurch sich die übliche Blickrichtung umkehrt. Sie stehen auf der Bühne und erzählen uns davon, wie es ist, (geistig) behindert zu sein in dieser Welt, in der es immer und überall ums Können geht. Sie stehen da und weisen uns darauf hin, dass sie längst nicht so behindert sind, als dass sie unsere Etikettierungen und die damit verbundenen Abwertungen nicht wahrnähmen und verstünden. Sie erlauben uns einen Einblick in ihre Gefühle, ihre Sehnsüchte und Träume und in ihre Gedanken. Sie werden zu komplexen Individuen.

Allmählich wird so aus der anfangs alles beherrschenden Wahrnehmung der Behinderung ein Attribut von vielen. Wir können Menschen nach ihrem Temperament sortieren, nach ihrer Schuhgröße, nach ihrer Körperbeherrschung, nach ihrer Offenheit, ja und auch nach dem Grad ihrer Intelligenz, aber wir müssen es nicht. Es ist nicht immer die aussagekräftigste Kategorie. Dieses Stück erzählt uns davon, wie unterschiedlich Menschen sind – ob mit oder ohne Behinderung. Und dass es uns allen vermutlich besser ginge, wenn wir uns nicht stets und ständig und überall damit plagten, etwas zu können. Gut oder fast gut oder anders gut. Sondern öfter mal machten und täten, loslegten und ausprobierten. Wenn wir mutiger wären und nicht so besorgt um die Figur, die wir machen oder die Lächerlichkeit, die nie allzu weit entfernt scheint.

Theater erzählt uns (auch) davon, was es bedeutet, genau heute genau diejenigen zu sein, die wir sind und wie es wäre, jemand ganz anderes zu sein. „Disabled Theater“ erzählt von beidem: von „uns“ und von den „anderen“ und dass die Grenzen, die Trennlinien so eindeutig und übersichtlich, wie wir dachten, vielleicht gar nicht sind.

2 Kommentare

  1. Es ist interessant zu lesen, wie Teilnehmer inklusiver Theaterprojekte dies erfahren – so wie Du schreibst, zunächst „ich“ und die „anderen“, und dann verschwimmen die Grenzen. Das geht einem übrigens auch als Zuschauer so – nicht beim ersten Mal, da sieht man vielleicht auch unbewußt genauer hin, aber mit der Zeit. Bei uns gibt es ein inklusives Projekt, das ich nun schon mehrmals anschauen konnte – inzwischen sehe ich nur noch: Schauspieler. http://www.eukitea.de/?s=Caritas

  2. Vielen Dank für den Link und den Hinweis auf deine eigene Erfahrung – ich kenne die Erfahrung, die du beschreibst gut, von mir selbst und auch von anderen. Und hätte offenbar deutlicher machen sollen, dass ich bei der geschilderten Inszenierung tatsächlich „nur“ Zuschauerin war und aus dieser Perspektive geschrieben habe …

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