„Da bleibt einem wohl nichts anderes übrig, als einmal die Leserperspektive einzunehmen …“

… sagte kürzlich eine Teilnehmerin der Romanwerkstatt, die ich in der hiesigen vhs leite. Sie sagte es in einem Ton großen Bedauerns und im ersten Moment konnte ich mir ein Schmunzeln darüber nicht verkneifen. Doch dann, während ich in meinen Unterlagen blätterte, erinnerte ich mich, dass es mir in der Vergangenheit ja ganz ähnlich ergangen war – und dass ich auch heute noch immer wieder überrascht bin, wie unterschiedlich Texte gelesen werden können. Welche Lesarten sie auch da erlauben, wo sie mir recht eindeutig zu sein scheinen. Dass der Text, den ich geschrieben habe, in unterschiedlichen Köpfen ganz unterschiedliche Gestalt annehmen kann, erlebte ich das erste Mal sehr nachdrücklich im Anschluss an eine Veranstaltung, in der ich eine Geschichte las, in deren Verlauf mehrere Menschen ums Leben kommen – auf relativ groteske Weise.

„Das ist unglaublich!“, sprach mich danach ein älterer Herr an. „Genau das habe ich erlebt! Genau das!“ Der traurigen Geschichte zum Trotz war seine Freude über die Duplizität der Ereignisse nicht zu überhören. „Das muss ich Ihnen erzählen“, sagte er dann und ich wollte tatsächlich gerne sein Geschichte hören. Er redete dann lang und leider auch umständlich und ich hörte ihm zu – und sah nicht den Hauch einer Parallele zu „meiner“ Geschichte. Irgendwo in einem von mir überhörten Nebensatz, mochte sie gelauert haben, die Ähnlichkeit, aber sie hatte ausgereicht, um eine ganz andere, ganz eigene Geschichte in seinem grauhaarigen Kopf heraufzubeschwören.

Ich würde hier nicht davon berichten, wenn ich nicht gerade, in einem Artikel von Ronald T. Kellogg über die Schulung von Schreibkompetenzen aus Sicht der kognitiven Entwicklungspsychologie (enthalten in dem interessanten Sammelband „Schreiben“. Grundlagentexte zur Theorie, Didaktik und Beratung – Herausgegeben von Stepanie Dreyfürst und Nadja Sennewald und 2014 erschienen) gelesen hätte, dass drei „Makrophasen“ in der kognitiven Entwicklung von Schreibkompetenzen existieren, von denen sich die dritte, genannt „Knowledge-crafting“ (nach „Knowledge-telling“ und „Knowledge-transforming“) dadurch auszeichnet, dass die Leserschaft in den Blick gerät. „Die Schreibenden versuchen mögliche Textinterpretationen vorauszuahnen und berücksichtigen diese bei der Überarbeitung.“

Und wahrscheinlich würde ich, trotz des hübschen Zufalls, nicht davon berichten, wenn ich nicht einige Seiten später auf meine so geliebte „10-Jahresregel für die Entwicklung von Expertise“ gestoßen wäre. Und so ist dieser ganze Artikel eine wunderbare Fundgrube für die Aspekte des Schreibens, die mir so wichtig scheinen: Dass das Schreiben längerer Texte so komplex ist, dass wir es zunächst „vereinfachen“ müssen und dass wir sehr, sehr viel Praxis benötigen und „bewusstes Üben“, was immer auch die Notwendigkeit qualifizierten Feedbacks bedeutet – das alles steht da drin und ich lese es und freue mich über die Wissenschaft, die manchmal viel interessanter ist, als ihr Ruf.

3 Kommentare

  1. Liebe Jutta, es ist sehr interessant, auch einmal das Lesen unter dem Aspekt der unterschiedlichen Wahrnahme zu betrachten. Gerade auch, dass – wie du schreibst – manchmal etwas kleines, etwas im Nebensatz, auslösen kann, dass unsere Gedanken in sehr verschiedene Richtungen gehen.
    Liebe Grüße zum Dienstagabend von
    Marlis

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