Über „Opfergeschichten“

Mehrere aufgeschlagene unbeschriebene Notizbücher

Sobald es einen neuen Skandal im Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen gibt, taucht reflexhaft eine Frage auf: Warum haben die Betroffenen, die Opfer so lange geschwiegen? Eine Antwort darauf lautet: Oft haben sie ja gar nicht geschwiegen! Oft reden die Opfer mit anderen über das Vorgefallene oder es liegt sogar vollkommen offen zutage – ohne, dass jemand einschreitet oder auch nur eindeutig Partei ergreift! Aber natürlich gibt es auch Menschen, die nach einem sexuellen Übergriff, nach einer Vergewaltigung oder einer anderen Straftat lange schweigen: Weil sie zunächst gar nicht erfassen, was ihnen widerfahren ist. Weil sie sich schämen oder schuldig fühlen. Oder weil sie auf keinen Fall ein „Opfer“ sein wollen. 

Als ich vor einigen Jahren bemerkte, wie groß meine eigene Angst davor war, der autobiografische Text, den ich angefangen hatte zu schreiben, könnte als „Opfergeschichte“ gelesen werden, begann ich mich auf eine allgemeinere, eher soziologische Weise für das Thema „Opfer“ zu interessieren und erlebte dabei eine Überraschung, von der ich mich bis heute nicht ganz erholt habe: Obwohl ich selbst, obwohl viele Menschen, die ich kenne, alles mögliche tun oder getan haben, um keine „Opfer“ zu sein, las ich plötzlich, wie attraktiv die Opfer-Rolle sei und wie schwer es den Betroffenen oft falle, all die Vorteile, die diese Rolle für sie bereithalte, wieder aufzugeben.

Ich las Von der Sehnsucht, Opfer zu sein und dass die Frauen, die sich im Rahmen von MeToo geäußert hätten, sich erst dadurch überhaupt zu Opfern gemacht hätten. Bei Jan Philipp Reemtsma las ich, dass Opfer sich heutzutage einer historisch einmaligen und unverdienten Anerkennung erfreuten, obwohl sie doch nichts geleistet hätten, außer Opfer zu sein. Reemtsma behauptet, dass die Unbeliebtheit der Opfer vorbei sei und sich in ihr Gegenteil verwandelt habe. Für diese erstaunliche These hat er eine noch erstaunlichere Begründung: Es seien die Überlebenden des Holocaust gewesen, die nicht mehr schamvoll schwiegen, wie es die „Opferrolle“ bis dahin vorsah, sondern die mit ihren Berichten zu Deutern der Conditio humana wurden: „die Lektüre der Bücher von Jean Améry, Primo Levi oder Ruth Klüger enthüllt, dass sie selbst sich auch so verstanden haben. Sie berichteten nicht einfach von Extremsituationen, wie dem Gerade-noch-Davonkommen im Rahmen einer gefährlichen Expedition, was spannend sein mag, aber im Grunde niemanden etwas angeht, sondern als Deuter der Welt, die man nicht kennt, wenn man nicht hört, was sie zu sagen haben.“ Die so entstandene „Parasitenliteratur“ habe zu der von ihm behaupteten radikalen Veränderung geführt, zu einem Umschlag vom einen Extrem (Ablehnung des Opfers) ins andere (Bewunderung für das Opfer): „Eine Öffentlichkeit, die – erfreulicherweise – den Affekt gegen das Opfer kulturell kompensiert hat durch Interesse und Anteilnahme, gewährt damit auch eine Gratifikation für den Opferstatus“. 

Der „sekundäre Gewinn“, von dem Reemtsma und andere sprechen, ist ganz offensichtlich eine Analogie zum „sekundären Krankheitsgewinn“, der bisweilen als Erklärung herangezogen wird, wenn Menschen nicht gesund werden, weil ihnen die Krankheit womöglich größere Vorteile verschafft als eine Gesundung. Aber gerade wenn man diese Analogie bedenkt, wird deutlich, wie unsinnig ihre Verwendung hier ist, denn auch die allermeisten Menschen, die erkranken, werden ja wieder gesund – genauso, wie sich die meisten Menschen von einer gravierenden Erschütterung nach einigen Wochen oder Monaten wieder erholen (was viele übrigens nicht wissen).

Gehör finden. Sicherheit. Beruhigung. Das, was für Menschen, die einer potentiell traumatisierenden Situation ausgesetzt waren, dringend notwendig ist, das, was sie in der Realität selten genug erfahren, wird innerhalb dieser Analogie unter Generalverdacht gestellt. Bloß nicht zu viel Aufmerksamkeit auf die Opfer richten! Sie könnten sich darin so wohl fühlen, dass sie gar nicht mehr aufhören wollen Opfer zu sein! Derart allgemein von den Annehmlichkeiten der Opferrolle zu reden, ist so abwegig, wie es abwegig ist, ohne jede Differenzierung von den Annehmlichkeiten des Krankseins zu reden.

Vermutlich liegt an dieser Stelle zusätzlich zu allen anderen Verdrehungen eine Begriffsverwirrung vor, das Wort „Anerkennung“ hat nämlich zwei Bedeutungen: Es gibt die mit der Bewunderung verwandte Anerkennung, die Reemtsma offenbar meint und es gibt die Anerkennung: Hier ist ein Unrecht geschehen! Denn das ist ja keineswegs immer der selbstverständlich geteilte Konsens, der es eigentlich sein sollte. So wie es auch im aktuellen Fall von Rammstein, von Lindemann, wieder diese typischen Unterstellungen und Fragen gibt, die einzig und allein darauf abzielen, den Opfern Verantwortung und Schuld aufzubürden: Warum haben sie sich überhaupt in seine Nähe begeben? Wie konnten sie so naiv sein? Usw. usw.

Wie lange es dauern kann, bis ein Bewusstsein für erlittenes Unrecht, ein Bewusstsein für die eigene Schuldlosigkeit entsteht, davon erzählt auch Siri Hustvedt in einer Episode ihres Buches Damals. Eines Abends lernt die junge Schriftstellerin, von der sie erzählt, auf einer Party Jeffrey kennen. Sie fahren auf seinen Vorschlag hin mit dem Taxi quer durch die Stadt zu einer anderen Party. Dort merkt sie schon nach kurzer Zeit, dass sie sich geirrt hat in ihrer Einschätzung Jeffreys. Sie will weg. Nicht, weil sie sich bedroht fühlt, nicht, weil sie Angst hat, einfach nur, weil Jeffrey und seine Freunde „dekadente, hohlköpfige Idioten“ sind. Sie verabschiedet sich von ihm, sie würde jetzt nach Hause fahren. Aber das will er nicht. Er besteht darauf, sie zu begleiten. Sie fühlt sich unbehaglich, aber sie wartet. Als das Taxi endlich vor dem Hause hält, in dem sie wohnt, läuft sie erleichtert zur Haustür und realisiert erst, als sie den Schlüssel im Türschloss dreht, dass er hinter ihr steht, dass er gar nicht mit dem Taxi weggefahren ist. Er dringt in ihr Apartment ein. Die Situation wird immer bedrohlicher, die Gewalt immer offener, unverhüllter. Er umklammert sie, schleift sie über den Fußboden, stößt sie, so dass sie gegen das Bücherregal prallt und auf dem Boden liegt. Er holt seinen Penis aus der Hose. „Da hatte der Refrain schon begonnen: Bitte nicht. Bitte nicht. Bitte nicht.“ An diesem Punkt nimmt die Geschichte so etwas wie eine glückliche Wendung. Lautes Klopfen an der Wand, eine Stimme aus der Nachbarwohnung, die ruft: „Verschwinde! Ich rufe die Polizei! Verschwinde!“ und ein Jeffrey, der flüchtet. „Ein Besen und drei Frauen haben sie gerettet“, schreibt Siri Hustvedt. In diesen Text gehört diese Episode, weil die Ich-Erzählerin noch Jahrzehnte später nach Erklärungen sucht – für ihr Verhalten, für das Verhalten der jungen Frau, die sie einmal war. „Inzwischen habe ich mich fast 40 Jahre für das Warten geschämt, und meine Demütigung nimmt kein Ende. Nein, sie brennt lichterloh. Es ist, als stünde ich noch immer vor dem Aufzug und wartete auf Jeffrey, der gesagt hatte, ein Mädchen, das mit ihm komme, gehe auch mit ihm. Es ist, als wäre ich noch immer die junge Frau, die unfähig, sich vom Fleck zu bewegen, vor dem Aufzug steht. Das war der Moment, in dem ich hätte davon laufen sollen, aber ich tat es nicht.“

Menschen, die Opfer von Verbrechen, insbesondere von sexuellen Übergriffen werden, fühlen sich zumindest vorübergehend (fast) immer irgendwie schuldig. Zumindest mitschuldig. Weil sie etwas Falsches gesagt oder getan haben, weil sie nicht aufmerksam genug waren oder „die Zeichen“ nicht erkannt haben. Weil sie mitgegangen sind, oder sich nicht gewehrt haben oder nicht genug gewehrt, nicht laut genug geschrien haben oder vielleicht auch überhaupt nicht geschrien haben. Weil sie nicht abgehauen sind oder den Täter nicht geschlagen haben, nicht totgeschlagen. 

Wer über die Behaglichkeit der Opferrolle spekuliert, sollte zur Kenntnis nehmen, dass es in der Regel nicht die Täter, sondern die Opfer sind, die sich nicht verzeihen können. Es sind nicht die Täter, die sich mit Schuldgefühlen plagen, sondern die Opfer. Paranoiker:innen können tatsächlich verfolgt werden, Hypochonder:innen wirklich lebensbedrohlich erkranken und natürlich können auch Opfer (mit)schuldig sein oder Menschen können behaupten, Opfer eines Unrechts geworden zu sein, ohne es zu sein. Aber wo immer die Vorstellung von der Schuld der Opfer auftaucht, wo über Opfer abwertend geredet oder geschrieben wird, ist der Verdacht naheliegend, dass es sich um einen weiteren Fall von „Täter-Opfer-Umkehr“ handelt, dieser so weit verbreiten, so erfolgreichen Verdrehung des tatsächlichen Sachverhalts. Kate Manne erwähnt in ihrem Buch Down Girl. Die Logik der Misogynie, wie seit den 1980er Jahren in den Vereinigten Staaten eine gegen Opfer gerichtete Stimmung aufgekommen ist: „Seit dieser Zeit spielt die Gestalt des Opfers – vielmehr eines selbsternannten Opfers, das sich als solches wahrnimmt, seine Verletzungen hegt und pflegt, vielleicht sogar erfindet und angelernte oder vorgetäuschte Hilflosigkeit demonstriert – eine immer wichtigere Rolle in der konservativen Ideologie. Diese zeichnet das Bild eines gekränkten, larmoyanten, melodramatischen Charakters, der ungerechtfertigte Verleumdungen verbreitet und von Dritten Mitgefühl und Aufmerksamkeit fordert. Mit unverhältnismäßig hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich dabei um Studenten, Millenials, Frauen, Feministinnen, Progressive und Opfer sexueller Gewalt …“.

Jederzeit kann alles passieren. Das ist eine Binsenwahrheit, die kaum jemand bestreiten würde. Theoretisch. Aber praktisch und ganz konkret möchten wir nicht ständig damit konfrontiert werden, dass wir oder die Menschen, die uns nahestehen, im nächsten Moment Opfer eines Unfalls, eines Überfalls, eines sexuellen Übergriffs werden können. Opfer verwandeln allein durch das, was ihnen widerfahren ist, alle anderen in Gefährdete, in nur vorläufig Verschonte. Auch deswegen ist die Vorstellung von der Schuld der Opfer wahrscheinlich so attraktiv. Hätten Siri oder Manuela, Achmed oder Cecil sich nicht so blöd, so unvernünftig, so naiv, so xy verhalten – dann wäre ihnen auch nichts passiert! Und deswegen wird auch uns nichts passieren, weil wir uns niemals so blöd, unvernünftig, naiv oder xy verhalten werden. Der dünne Faden, an dem das Leben oder die eigene Unversehrtheit gerade noch zu hängen schien, wird wieder zu einem dicken Seil, sobald wir den Opfern die Schuld geben können. Und umso besser, wenn auch die Opfer mitspielen, wenn sie selbst es sind, die als erste den Finger heben, wenn es um die Verteilung der Schuld geht …

Die erwähnte Behauptung, Menschen würden „sich selbst zum Opfer“ machen, indem sie von den Angriffen, den Zumutungen berichten, denen sie ausgesetzt waren, ist eine perfide Verdrehung des tatsächlichen Sachverhalts. Sie unterschlägt für wie viele Frauen, für wie viele Menschen umgekehrt genau darin ein wichtiger Akt der Selbstbestimmung liegt – für den sie Jahre, oft Jahrzehnte Anlauf genommen haben. „Indem wir öffentlich sprechen, machen wir uns nicht zu Opfern, im Gegenteil: Wir ent-opfern uns. Opfer waren wir vorher, in dem Moment, in dem etwas passiert ist. Aber sobald wir erzählen, wechseln wir den Status: Wir werden vom Objekt zum Subjekt. Wir erlangen ein Stück Kontrolle zurück, wenn wir von einem „nein, frag nicht, alles okay“ zu einem „Scheiße, mir ist etwas passiert“ gelangen. Es ist ein Schritt aus der Ohnmacht heraus.“ (Margarete Stokowski)

Carolin Emcke erzählt in Ja heißt Ja und … gleich zu Beginn davon, dass sich in ihrer Kindheit die Warnung vor dem „bösen Mann“, die Warnung vor sexuellen Übergriffen in dem Satz verbarg: „Lass dich nicht mitschicken“. Sie schreibt dazu: „Da soll vor etwas gewarnt werden, aber was das sein soll, wird nicht benannt. Es wird nicht beschönigt, denn sonst brauchte man ja nicht davor gewarnt zu werden. Es wird das, was jemand einem antun kann, beschwiegen. Als sei es unanständig, es auszusprechen – anstatt die Tat zu unterdrücken, wird das Reden darüber unterdrückt.“

Wie in einer Gesellschaft über sexualisierte Gewalt geredet wird, welche Geschichten darüber (nicht) erzählt werden können, hat nicht nur Auswirkungen auf die Menschen, die bereits Opfer eines Missbrauchs oder einer Vergewaltigung geworden sind, es hat auch gravierende Auswirkungen auf diejenigen, denen das in der Zukunft widerfahren wird: Von den Reaktionen, die Frauen heute erleben, hängt wesentlich ab, ob die Opfer von morgen sich sprachlos mit absurden Schuldgefühlen plagen oder ob sie sich die Unterstützung und Hilfe organisieren können, die sie benötigen.

10 Kommentare

  1. Liebe Jutta,
    was für eine luzide, kluge Zusammenfassung des Themas! Es ist so wichtig, dass wir diesen herrschenden Erzählungen immer wieder entgegentreten, die leider auch von sehr vielen Frauen weitergetragen werden. Weil sie eben nicht auf den Opferstatus reduziert werden wollen, selbst wenn sie Opfer sind. Weil das leider genau das ist, was passiert. Nach patriarchaler Logik muss ein Opfer schweigen, um die Machtlosigkeit, die es im Moment der Tat empfunden hat, nicht öffentlich zu machen. Denn Macht ist das einzige, was zählt, was dich in der Hierarchie nach oben bringt. Doch absurderweise gibt man die Macht erst recht ab, indem man den Tätern oder x-beliebigen anderen die Deutungshoheit überlässt.
    Großes Thema!
    Danke!
    Herzlich, Gudrun

    PS: Mein demnächst erscheinendes Buch „Zwischen euch verschwinden“ trug den Arbeitstitel „Opfer“. Doch dieses schmutzige Wort macht es natürlich nicht auf den Titel 😉

    1. Liebe Gudrun, was für eine schöne Rückmeldung, ich danke dir sehr dafür – you made my Day … Und ja, es ein großes Dilemma: Es müssten sich mehr Frauen, überhaupt mehr Menschen als Opfer „outen“, aber man erlebt ja gerade wieder, was dann passiert, wenn es welche machen … Deinen Titel habe ich mir gerne für den Herbst notiert und bin sehr gespannt! Alles Gute und herzliche Grüße!

  2. Super, dieses Beleuchten verschiedenster Aspekte der Opfer-Rolle. Reemtsma ist zu eingeschraenkt in seinem Blickwinkel, um die Komplexitaet zu erfassen. Allein der Rekurs auf Holocaust-Opfer disqualifiziert.
    Mir faellt zum Thema Opfer noch Folgendes ein:
    1. Der momentane Gewinn darin, die Schuld in sich zu suchen, kann auch dem Kontrollverlust entspringen. Wenn ich nur dies oder das gesagt, getan, nicht gesagt, nicht getan haette, waere dies oder das nicht passiert … Ich denke an meine spontane Reaktion auf den Selbstmord einer Freundin. Zwei Monate zuvor hatte sie mich aus Schweden in Boston angerufen. Sie klang depremiert. Kaum lernte ich von ihrem Selbstmord, warf ich mir vor, ich haette damals schon Alarm schlagen muessen. Selbst Kinder machen sich Vorwuerfe, wenn Eltern sich scheiden lassen, wenn ein Elternteil Alkoholiker*in ist, etc. Sie sind ueberzeugt, dass, haetten sie sich anders verhalten, waeren sie lieb und brav gewesen, wuerden die Eltern jetzt noch zusammensein, nicht trinken … . Im ersten Augenblick moegen dies troestliche Gedanken sein, doch, wie Du ausfuehrst, kommt das Opfer aus der Opferrolle erst heraus, wenn sie erzaehlt.
    2. Viel zu selten fragen wir, warum der Taeter nicht anders gehandelt hat und welche Optionen ihm oder ihr offenstanden. Das wurde mir durch das ausgezeichnete Buch von Rachel L. Snyder bewusst (No Visible Bruises: What We Don’t Know About Domestic Violence Can Kill Us). Warum hat sie nicht die Polizei alarmiert? Warum ist sie nicht mit den Kindern abgehauen, um alle in Sicherheit zu bringen? … Keiner fragt, warum hat der Taeter sich nicht Hilfe geholt? Warum hat er nicht nach Alternativen fuer sein gewalttaetiges Verhalten gesucht? Damit faengt die Akzeptanz der Taetergewalt bereits an. Im Beispiel der Geschichte von Siri Hustvedt (habe ich nicht selbst gelesen) verkuendet Jeffrey, dass er „nicht will“, dass die junge Frau nach Hause faehrt, dass er darauf besteht, sie zu begleiten. Welches Recht hat er, ihrem Wunsch, die Party zu verlassen, entgegenzutreten? Wen kuemmerts, was er will? Und dass er darauf besteht, sie zu begleiten, weil er zum Gesetz erhoben hat, dass ein Maechen, das mit ihm kommt auch mit ihm geht? In vermeintlicher Kavalierspose der Frau seinen Willen aufzwingen, gilt als maennlich. Frauen sind darauf trainiert, den vermeintlich guten Willen des Mannes nicht zu verprellen, fuer die vermeintliche Beschuetzer-Geste auch noch dankbar zu sein, selbst wenn der Bauch sagt, dass hier etwas nicht stimmt. Da faengt der Missbrauch schon an. Siri Hustvedt glaubt, in dem Moment haette sie davonlaufen sollen. Wir Frauen koennten uns auch breitbeinig hinstellen und den vermeintlichen Kavalier ablehnen: ‚Nein, danke. Ich kann allein fuer mich sorgen. Ich werde mir ein Taxi rufen und heimfahren. Ob ich mit jemandem zusammen zu einer Party gehe und ob ich allein oder zusammen heimgehe, ist allein meine Sache.‘
    Snyder berichtet von Trainingsprogrammen in Gefaengnissen fuer Taeter haeuslicher Gewalt. Ueberraschenderweise wollen sie fast alle teilnehmen, suchen nach alternativen Handlungsoptionen, um aus dem toxischen Zirkel der Gewalt herauszukommen.

    1. Vielen Dank für diese vielschichtigen und anregenden Gedanken! Ich habe kürzlich in einem Interview mit Agota Lavoyer (einer Expertin für sexualisierte Gewalt) auf die Frage, was sie jungen Fans rate, wenn sie zu einem Backstage-Besuch eingeladen werden, die Antwort gelesen: „Ich habe ganz viele Ratschläge – aber nicht für junge Frauen, die sich korrekt verhalten. Sonst würde ich die Vergewaltigungskultur unterstützen. Die besagt, dass männliches Verhalten unveränderbar sei und deshalb Frauen dafür verantwortlich sind, dass ihnen keine sexualisierte Gewalt angetan wird.“ Es gibt wirklich viele Aspekte, die dazu beitragen, dass Opfer Schuldgefühle entwickeln – auch der von dir erwähnte Kontrollverlust spielt sicherlich eine wichtige Rolle! Nochmals vielen Dank und herzliche Grüße!

    2. >Wenn ich nur dies oder das gesagt, getan, nicht gesagt, nicht getan haette, waere dies oder das nicht passiert …<
      Ein zentraler Punkt.
      Der Wunsch der Menschen, sich vor dem Gefühl des Kontrollverlustes, vor Unglück, Gewalt und Katastrophen zu schützen, ist uralt.

      Realistisch betrachtet können wir niemandem wirklich vertrauen – außer uns selbst. Da ein gewisser Vertrauensvorschuss aber für ein soziales Miteinander notwendig ist, wird den meisten Menschen von früher Kindheit an vermittelt, im Kontakt mit Anderen auszublenden, dass diese jederzeit Übergriffe begehen könnten. Dazu wurden jede Menge kollektiver Mythen entwickelt, v.a. in Bezug auf das menschliche Sexualverhalten und Geschlechterrollen. So entstand das berühmte Narrativ vom Missbrauchstäter als "im Gebüsch lauernder böser fremder Mann", während es sich tatsächlich bei den meisten MissbrauchstäterInnen um Angehörige oder Bekannte der Opfer handelt. Bei 30 % der an Kindern und Jugendlichen begangenen Sexualstraftaten sind die Täter weiblich. Trotzdem werden fast reflexhaft fast immer Männer verdächtigt, wenn Kinder oder Jugendliche sexuell missbraucht werden, während wir Frauen in der Hinsicht meistens vertrauen.

  3. …. das Wort Opfer gefällt mir nicht, ich würde es eher als Geschädigte und dann Überlebende bezeichnen. Aber alleine die Tatsache, das wir ständig überall um benötigte Hilfe kämpfen müssen, warten müssen auf Hilfen, Glaubwürdigkeitsgutachen über uns ergehen lassen müssen, nun gut, ….

    Das man nach einer bestimmten festgelegten Anzahl von Therapiestunden mit dem verarbeiten fertig sein muß und danach ist Schluss, da fängt es doch schon an.

    Dann wird einem noch vorgeworfen, man hätte eine Gewinn davon Überlebende zu sein. Kann mir mal einer erklären was für ein Gewinn das sein soll? Nicht mehr arbeiten zu können, weil man seelisch kaputt ist, kaputt gemacht worden ist, am Existenzminimum leben muss, keinen Therapieplatz findet oder wenn dann ein Jahr oder länger warten muss um überhaupt einen zu bekommen, nach einer festgelegten Anzahl von Stunden ist dann Schluss, dann muss aber gut sein.

    Dann gilt man als faul, man soll sich nicht so anstellen. Der absolute Hohn ist dann wenn man einen Antrag beim OEG stellen möchte, muss man nachweisen das man angezeigt hat und das Täter verurteilt worden sind, hat man das nicht muss man erklären warum man das nicht getan hat, dann muss man ggf. noch Glaubwürdigkeitsgutachten über sich ergehen lassen, Täter namentlich bennen, die dann angeschrieben werden.

    Die Bearbeitung der Anträge dauert viele Jahre und wenn es doof läuft muss man von einem Glaubwürdigkeitsgutachten zum nächsten, da überlegt man sich ob man so einen Antrag überhaupt stellt. Denn stellt man so einen Antrag wird pauschal oft erstmal davon ausgegangen der Antragsteller oder die Antragstellerin würde lügen.

    Ständig muss man sich rechtfertigen in der Gesellschaft und wenn man dann ggf. nicht so ist wie die Gesellschaft meint, wie man als Opfer zu sein hat, dann wird man angefeindet siehe Natascha Kampusch z.b.!

    Die Scheinheiligkeit der Gesellschaft kotzt mich gelinde gesagt nur noch an. Fakt ist kein Überlebender und keine Überlebende hat sich das ausgesucht, das diese Geschehnisse einen krank gemacht haben. Da gibt es keinerlei Krankheitsgewinn, wo Suizidalität, Schlafstörungen, SVV, Depressionen, Flashbacks, Panikattacken, Esstörungen, Minderwertigkeitsgefühle, Schuld und Schamgefühle, fehlende Bindungsfähigkeit und Co. ein Gewinn sein sollen ist mir als Überlebende echt ein absolutes Rätsel. Mit einer möglichen Erwerbsunfähigkeitsrente oder Sozialleistungsbezug da hat man so echt einen absoluten Gewinn und kann es sich in seinem Leben so richtig gemütlich und bequem machen, da krieg ich echt das würgen als Betroffene, wenn jemand von Krankheitsgewinn redet oder man hätte es sich in seiner Opferrolle bequem gemacht.

    Die meisten Menschen laufen weg, wenn man ihnen von diesen Dinge erzählen möchte. Fakt ist Opferhilfe gibt es nicht wirklich so wie es sie geben müsste.

    1. Vielen Dank für diesen Kommentar! Es gibt so viele Ungerechtigkeiten bis Ungeheuerlichkeiten in diesem Bereich, von denen sich viele Menschen keinerlei Vorstellung machen, die sich ansonsten für gut informiert halten, deswegen ist es glaube ich wichtig, die Energie zu nutzen, die in der Wut liegt – so wie du es getan hast.
      Was die Frage der Bezeichnungen betrifft: Ich kann sehr gut verstehen, dass du und viele andere den Begriff „Opfer“ nicht angemessen finden. Für mich wiederum fühlen sich die Begriffe „Überlebende“ oder „Geschädigte“ nicht richtig an und im Moment (aber vielleicht ändert sich das auch wieder) möchte ich den Begriff „Opfer“ nicht denen überlassen, die damit beleidigen und herabwürdigen wollen. Aber wie gesagt, ich kann alle verstehen, die das anders sehen und finde, das muss jede/r für sich entscheiden.
      Und nochmals ja, viele Menschen laufen weg und wollen von diesen Geschichten nichts wissen – das ist leider genau so!

    2. Falls Sie von sexuellem Missbrauch betroffen sind, können Sie beim Fonds Sexueller Missbrauch einen Antrag auf Finanzierung von Hilfen (Sachleistungen) stellen.

Ich freue mich über Kommentare!

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