Ich erinnere mich noch sehr gut, wie mühsam das Schreiben literarischer Texte für mich lange Zeit war. Wie wenig Ideen ich hatte und wie schnell diese dann meist schon „verbraucht“ waren für einen Text, von dem ich wusste, dass er nicht wirklich gut war. Ich hatte keine Vorstellung, keine Idee, wie ich so an diesen Texten arbeiten könnte, dass sie besser würden. Ich konnte sie mir gar nicht anders vorstellen, als genau so, wie sie waren – aber das war mir nicht bewusst und noch weniger war mir bewusst, wie wichtig genau diese Fähigkeit ist, einen Text „durchkneten“ zu können, um etwas anderes aus ihm, aus seinen zentralen Bestandteilen zu formen.
Heute weiß ich, dass die Fähigkeit, sich einen Text auch (ganz) anders vorstellen zu können, als er aus einem ersten Schreibimpuls oder -plan entstanden ist, erst ganz allmählich wächst. Und sich andererseits, wenn sie dann einmal erworben ist, oft nur schwer begrenzen lässt. Das scheint mir die zentrale Überarbeitungparadoxie zu sein: Gerade bei unseren ersten Texten, die eigentlich ganz besonders der Überarbeitung bedürfen, gelingt sie uns nicht (oder nur auf der Textoberfläche), während wir sie später (wenn die Texte schon ganz ordentlich sind) manchmal nur mühsam begrenzen können.
Mir ist dieses Wort „Überarbeitungsparadoxie“ erst in diesen Tagen eingefallen, als ich meine eigenen „Corona-Momente“ aufschreiben wollte. Eigentlich war es mir gar nicht so recht, dass sich dieser Schreibimpuls der vergangenen Woche so in meinem Kopf festgesetzt hatte, lieber wollte ich die gerade etwas rare Schreibzeit einem anderen Text widmen – aber nach ein paar Tagen ständigen Formulierens kleiner „Ich erinnere mich …“-Momente, hatte ich ein Einsehen und setzte mich am ersten halbwegs freien Vormittag hin und notierte, was mir zuvor durch den Kopf gegangen war. All die Erinnerungen, die mir aussagekräftig vorkamen. Plötzlich erinnerte ich mich wieder an zwei Arbeitstreffen – das erste davon muss am 23. Februar stattgefunden haben – und wie sich in unsere Begrüßungsroutine ein unmerkliches Zögern, eine Unsicherheit einschlich und wir uns dann aber doch umarmten, ein bisschen verlegen. Oder war die Verlegenheit erst eine Woche später aufgetaucht, als wir uns wieder sahen und es, ohne dass wir darüber hätten reden müssen, klar war, dass wir uns nicht umarmten? Was war in dieser einen Woche geschehen? Wann hatte ich die Nachricht von den abgeriegelten italienischen Städten gehört, wann die Militärfahrzeuge im Fernsehen gesehen, die Särge abtransportierten? War das vorher oder nachher? Ich suchte die Meldungen und schrieb auf, was mir einfiel. Ich staunte, was alles zusammenkam in den Wochen, bevor ich Anfang März zu einem zwölftägigen Urlaub nach Juist aufgebrochen war. Hatte Corona nicht dort erst richtig für mich „angefangen“? Mit der mir unglaublich vorkommenden Aufforderung der Kurverwaltung, die Insel umgehend zu verlassen? Mit der gespenstischen Rückfahrt im leeren Zug in diesen Tagen, in denen noch nicht einmal Fahrzeugkontrolleur:innen den Zug entlangliefen?
Sollte sich mein Corona-Momente-Text nicht ganz auf diese Juistreise konzentrieren? Oder sollte sie im Zentrum stehen und ich würde die vorherigen Ereignisse rückblicksartig einfügen? Oder sollte ich doch bei dem Versuch, einer halbwegs chronologischen Reihenfolge bleiben, die es mir ermöglichte das wiederkehrende „Ich erinnere mich …“ beizubehalten, das mir für diesen Text gut gefiel? Und warum, meine Güte, machte ich mir überhaupt all diese Gedanken – wegen eines Textes, den ich aller Voraussicht nach nur für mich schreiben würde? Warum suchte ich nach der bestmöglichen Form für ihn, dachte über ihn nach, als wäre er ein wichtiger Wettbewerbsbeitrag? Konnte ich diesen „Verbesserungsmodus“ nicht einfach mal ausschalten?
Nein, ich kann es meistens nicht. Sowenig ich das Denken in Textalternativen lange Zeit anschalten konnte, kann ich es jetzt ausschalten. Ich glaube, es ist so etwas wie eine Dimension der Wahrnehmung: sobald sie existiert, existiert sie. Dazu passt, dass immer wieder Teilnehmer:innen meiner Werkstätten halb im Scherz, halb ernsthaft darüber klagen, dass sie nicht mehr „normal“, nicht mehr wie früher „einfach so“ lesen können. Plötzlich bemerken sie Perspektivenfehler oder sie stören sich an der eindimensionalen Gestaltung einer Figur, die ihnen früher nicht aufgefallen wäre.
Wer also seine Überarbeitungsfähigkeit schulen und ausbauen möchte, wer lernen möchte, die eigenen Texte „durchkneten“ zu können, könnte sich ab und zu und möglichst spielerisch bei eigenen oder fremden Texten die Frage stellen: Was könnte an diesem Text alles anders sein? An welchen Schrauben könnte ich drehen? Mit welcher anderen Szene könnte er beginnen? Was, wenn es eine klare Erzählstimme gäbe (oder eben keine). Könnte er aus einer anderen Perspektive oder mit einer anderen inneren Haltung geschrieben sein? Welche anderen Enden wären vorstellbar?Aber wie gesagt, wer sich regelmäßig mit anderen über die eigenen und fremden Texten austauscht, die oder der wird früher oder später fast zwangsläufig anfangen, sich Texte auch anders vorzustellen zu können …
Ich freue mich auf Eure Gedanken, Erfahrungen und Fragen!