Peter von Matt, der Schweizer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler ist im Alter von 87 Jahren gestorben. Er gehört zu den Autoren, denen ich viel verdanke. Seine Gedanken und Erkenntnisse haben sich ganz unmittelbar in meine Texte eingeschrieben. Das gilt in besonderer Weise für seine Überlegung zum „Ärgernis des Happy Ends in der Literatur“, die ich schon oft zitiert habe, zuletzt in meinem im vergangenen Herbst erschienenen Buch Mein Leben war nicht, wie es war:
„So sehr wir uns das ›gute Ende‹ für bestimmte Geschichten erhoffen, so verdächtig ist es uns bei anderen. Müssen literarisch ›gute‹ Texte nicht sogar eigentlich immer schlecht enden? In seinem Vortrag Dramaturgie einer Himmelsnacht: Die Liebe in der Literatur und das Ärgernis des Happy-Ends verhandelt der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt die Frage: »Unter welchen Umständen ist der glückliche Ausgang in der Literatur gerechtfertigt?« Seine Antwort: »Je gefährlicher die Krise war, die mit dem Moment des guten Ausgangs überwunden wird, umso legitimer ist das fröhliche Ende.« Mir gefällt die Vorstellung, dass Literatur wesentlich von Krisen erzählt und es daher neben den Erzählungen vom Scheitern, von Unglück und Tod auch solche geben sollte (und immer gegeben hat), in denen laut von Matt »die Glocken läuten, wenn einer, der Schiffbruch erlitten hat und am Ersaufen war und sich gewehrt hat und durchgehalten hat, schließlich an Land kriecht, und da sitzt er nun und leckt seine Schrammen und die Liebe Sonne trocknet ihn.“
Auch hier auf dem Blog tauchte dieser Gedanke und das Zitat als zentrales Argument bereits vor gut zehn Jahren in einem Beitrag zu den Schwierigkeiten ein gutes, ein richtiges Ende zu finden auf: Müssen gute Geschichten schlecht enden?
Was ich damals unerwähnt ließ: Der zitierte Gedanke von Peter von Matt hatte mir einen entscheidenden Impuls gegeben, als ich nach dem „richtigen“ Ende für meinen Roman Wiederholte Verdächtigungen suchte. Das schrieb ich Peter von Matt und bedankte mich bei ihm mit einem kurzen Brief und einem Exemplar meines Buches. Ich bin mir recht sicher, dass ich noch die Bemerkung hinzugefügt habe, er solle sich angesichts der Vielzahl seiner Aufgaben bitte keinesfalls zu einer Lektüre genötigt fühlen, das widerspräche der Intention meines Schreibens vollkommen. Umso überraschter und erfreuter war ich, als ich einige Monate später Post aus der Schweiz erhielt: Peter von Matt bedankte sich für Hinweis und Buch, für das er einige sehr freundliche Worte fand, was mir bis heute viel bedeutet.
Wenn ich an Peter von Matt denke, dann denke ich auch an sein Buch Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur – ein Buch, mit dem ich nicht viel anfangen konnte, als ich es das erste Mal in die Hand nahm und das ich dann einige Jahre später mit großer Begeisterung gelesen habe. Bis heute berührt mich die Erkenntnis, wie feinfühlig das Wissen um familiäres Unglück auch schon vor Jahrhunderten in literarischen Texten zum Ausdruck kam. Peter von Matt bringt diese zahlreichen Fundstellen mit großer analytischer Kraft und Offenheit in einen überaus gut lesbaren Zusammenhang, so dass man nach der Lektüre neben allem anderen auch gleich noch einen tieferen, kenntnisreicheren Blick auf die (Literatur)-Geschichte besitzt.
Wenn ich an Peter von Matt denke, denke ich, dass die richtig guten Autor:innen sehr oft sehr gute Menschenkenner:innen sind. Peter von Matt war ein großer Menschenkenner, ein freundlicher, humorvoller noch dazu. Ich werde weiter oft an ihn denken …
Aus Anlass seines 80. Geburtstages hat Uwe Wittstock eine Eloge auf Peter von Matt unter dem Titel Was wollen uns die Küsse sagen? veröffentlicht, die ich sehr empfehlen möchte: https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=23199