Was ist ein Schulhausroman? Oder: „Wir sind das Buch!“

Schon ein ganz normaler Schulhausroman ist eine ungewöhnliche Geschichte, aber der 1. Bremerhavener Schulhausroman, von dessen Enstehung ich hier berichten möchte, wartet noch mit einer zusätzlichen Pointe auf. Die normale Pointe des Schulhausromans besteht darin, dass er gelingt. Obwohl alles dagegen spricht. Allein schon die Rahmendaten: Eine Autorin oder ein Autor und eine Schulklasse arbeiten 8 Doppelstunden zusammen. Mehr nicht. Ach ja, es darf nicht irgendeine Klasse sein. Es sollte eine sein, die sich das nicht zutraut. Also kein Deutschleistungskurs, keine AG aus Schreibbegeisterten, kein Gymnasium. Was sonst noch festgelegt ist: Am Ende werden die entstandenen Texte präsentiert (Lesung) und publiziert – und die Autor.innen erhalten für ihre Arbeit ein vernünftiges Honorar.

Als ich vor Jahren das erste Mal von diesem Projekt hörte, das der umtriebige Züricher Schriftsteller Richard Reich über die Jahre zu einem regelrechten Exportschlager entwickelt hat und das zugleich die Keimzelle für das wunderbare JungeLiteraturLabor (jull) in Zürich ist (hier habe ich schon mal kurz darüber geschrieben und hier gibt es weitere Infos über das Schulhausroman-Projekt), war ich im ersten Moment begeistert und im zweiten fragte ich mich: Wie geht das? Wo liegt das Geheimnis des Gelingens? Wäre das nicht auch etwas für Bremen? Ich sprach hier und da vor, aber es gab zunächst keine Idee, wie dieses Projekt finanziert werden könnte. Umso mehr freute ich mich, als es dann doch klappte: Das Literaturhaus Bremen konnte mit vielfacher Unterstützung (u.a. der Stiftung „Gib Bildung eine Chance„) 2014 mit dem „Bremer Schulhausroman“ an den Start gehen. In diesem Schuljahr (2016/17) entstanden an der Bremer Oberschule im Park begleitet von Betty Kolodzy und an der Bremerhavener Schule am Ernst-Reuter-Platz gleich zwei Schulhausromane.

Und was ist nun das Geheimnis des Gelingens? Ehrlich gesagt, kann ich diese Frage immer noch nicht beantworten. Vielleicht gilt hier auch „das Gesetz der großen Zahl“? Über 200 Schulhausromane sind mittlerweile entstanden: vor allem in der Schweiz, aber auch in Österreich und einige in Deutschland. Immer hat es geklappt. Da werde ich doch nicht die erste sein, bei der es nicht funktioniert … Ich vermute, dass dieser Gedanke den meisten betreuenden Autor.innen irgendwann einmal durch den Kopf geht – und sie sowohl ermutigt als auch „diszipliniert“. Und vielleicht gelingt es auch deswegen immer wieder, weil die Autor.innen frei darin sind, wie sie mit ihrer Klasse arbeiten. Jede/r wählt die Vorgehensweise, die er oder sie für sinnvoll, für aussichtsreich hält. Entscheidend ist, dass es am Ende eine Textform gibt, mit der sich die Jugendlichen identifizieren, für die sie die Verantwortung übernehmen.

Mein Plan für das erste Treffen war, gemeinsam eine Probe-Geschichte zu erfinden. Damit die Schüler.innen eine konkrete Vorstellung davon bekommen, was wir miteinander machen werden. Damit ich durch die Konzentration aufs Erfinden vielleicht auch die gewinnen kann, die keine Lust auf, kein Zutrauen ins Schreiben haben. Damit ich an neutralem Stoff demonstrieren kann, wie eine Geschichte „von innen funktioniert“. Weil ich dieses gemeinsame Geschichtenerfinden oft anwende und es immer lustig ist und Spaß macht.
Einer der Schüler hat sofort eine Titelidee: Vom Dönermann zum Fußballstar. Super! Schnell haben wir eine Story und spielen damit herum: Die Eltern wollen, dass der Sohn den Dönerladen übernimmt, er will Fußballstar werden. Vielleicht gibt es eine schwangere Freundin, vielleicht Talentscouts. Mal fügt sich der Sohn, mal rebelliert er. In einer Version wird er gemobbt, weil er keine Markenklamotten hat.
Den Schüler.innen gefällt, glaube ich, die Ernsthaftigkeit, mit der wir alles verhandeln. Mir gefällt die Offenheit und konzentrierte Atmosphäre. Am Ende (wir haben 80 Minuten pro Termin) soll jede/r aufschreiben, was in der „echten“ Geschichte drin sein soll: Figuren, Orte, „Schwierigkeiten“, „soll auch rein“.

Bei den nächsten beiden Treffen entwickeln die Schüler.innen dann die Geschichte, die sie erzählen wollen und später so zusammengefasst wird: „Till ist neu an der Schule und hat schon bald ziemlichen Ärger am Hals: Er legt sich mit Hakan, dem Magger der Klasse an, als der den streberhaften Philipp schikaniert. Immerhin kann er damit Jennifers Aufmerksamkeit gewinnen. Jennifer, die behauptet, dass im Schulkeller Unheimliches vor sich geht. Ein Gerücht, denkt Till. Aber dann hört Philipp Schreie aus dem Keller und sie finden ein altes Tagebuch mit rätselhaften Einträgen, das nach den ersten Seiten abrupt endet.
Dies ist die Geschichte von fünf Jugendlichen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die in einer späten Sommernacht beschließen, eine Clique zu werden und dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Sie ahnen nicht, welche Herausforderungen und Gefahren auf sie warten …“

Dann wird geschrieben und überlegt. Wie könnte es im Keller aussehen? Wie entwickelt sich die Beziehung zwischen Till und Hakan, zwischen Till und Jennifer? Was passiert eigentlich im Keller und was ist mit dem Hausmeister los? Es gibt Schüler.innen, die sofort mit dem Schreiben loslegen und andere, die erst später einsteigen. Manche bleiben dem Schreiben gegenüber zurückhaltend, steuern aber gute Ideen bei. Ein Schüler, der erst spät in die Klasse kommt, entpuppt sich als toller „Vorleser“. Letztlich tragen fast alle etwas zum Gelingen bei und wenn es Zuversicht und gute Laune sind oder ein kleines Detail, ein Satz, ein aramäisches Symbol an der Wand, das dem Keller zusätzliche Rätselhaftigkeit verleiht.

Und schließlich haben wir es auch geschafft: die Klasse 10L der Schule am Ernst-Reuter-Platz in Bremerhaven hat einen richtig guten Roman geschrieben. Yeah! Und nicht nur das Ergebnis stimmt, auch der Weg dorthin hat allen Beteiligten (ganz überwiegend) Freude bereitet. Wer Lust hat, kann sich davon im Rahmen einer Präsentation der beiden Romane überzeugen:

In Bremen am 13. Juni im Wallsaal der Stadtbibliothek und im Pferdestall (Gartenstr. 5) in Bremerhaven am 15. Juni, jeweils um 18 Uhr. Der Eintritt ist frei.

Und dann wird es noch eine weitere, tolle Präsentation geben: zwei Schüler.innen und die Klassenlehrerin Sabine Lehmann (die als Klassenlehrerin viel zum Gelingen beigetragen hat) werden mit Heike Müller vom Literaturhaus und mit mir nach Brüssel reisen, um den Roman in der Bremer Vertretung und der deutschen Schule vorzustellen. Zwei Schüler.innen? Das war der Plan. Erst kurzfristig hatte sich diese Möglichkeit ergeben und es war noch unklar, wie das überhaupt gehen könnte, wer welche Kosten übernimmt usw., da erreichte die Verantwortlichen dieser Brief:

„Wir sind das Buch!!! Liebe Heike, wir, die Klasse 10L danken zunächst einmal für die Einladung nach Brüssel.
Den Roman zu schreiben hat uns sehr viel Spaß bereitet, so dass aus dem Roman ein tolles Gemeinschaftsprojekt entstanden ist. Wir als Klasse haben alle zu der Entstehung des Romans über Wochen hinweg beigetragen und wir als Klasse sind sehr stolz darauf.
Weil wir ein Team sind, wollen wir unseren Roman auch zusammen in Brüssel mit Jutta vertreten. Eine Auswahl von zwei Schülerinnen bzw. Schülern nach Kriterien ist für uns keine Option, denn wir alle erfüllen zusammen die Kriterien. Durch unterschiedliche Stärken und Schwächen ergänzen wir uns alle zu einem über Jahre hinweg gewachsenen Team. Nur deshalb ist aus dem Roman das geworden, was er ist.“

Für mich ist dieser Brief eine echte, große, zusätzliche Pointe. Umso schöner, dass die Schüler.innen Erfolg damit hatten und wir nun mit Bus und in ganzer Klassenstärke am 22. Juni nach Brüssel reisen werden. Der Bremer Europaabgeordneten Helga Trüpel, der engagierten Bremer Vertretung in Brüssel, Heike Müller vom Literaturhaus und ganz besonders der engagierten Schirmherrin Alexia Sieling sei Dank!

THE END

Info 1: Es ist eine Besonderheit der Bremer Variante, dass die Romane tatsächlich von einem „echten“ Verlag gedruckt und vertrieben werden, nämlich dem Schünemann Verlag – und so kann man „Die dunklen Stufen zur Jugend“ demnächst bestellen und für 5 Euro kaufen. ISBN 978-3-96047-023-6

Info 2: Weil das Schulhausroman-Projekt vergleichsweise aufwändig ist, entwickele ich gerade das Tages-Angebot „Einen Roman an einem Schultag erfinden“, das den Grundgedanken meines Formates „Einen Roman in 60 Minuten erfinden“ aufgreift und um gemeinsames Schreiben erweitert. Interessierte Lehrer.innen können gerne vollkommen unverbindlich anfragen (juttareichelt@aol.com) – sehr gerne auch solche an Gymnasien!

15 Kommentare

  1. wie gerne ich das alles lese und nun bin ich ganz neugierig geworden und werde morgen mal in Ruhe deinen Links folgen, das könnte mir auch richtig Freude machen!
    danke Jutta und herzliche Nachtgrüße
    Ulli

  2. Ein interessantes Projekt, Jutta. Ich drücke die Daumen, dass es viele Nachahmer findet!
    Vielleicht gelingt ein Projekt dann, wenn es mit Freude und dem Herzen geleitet wird! 🙂

    1. Liebe Susanne, vielen Dank! Ja, ich glaube, echtes Herzblut für eine solche Sache ist extrem wichtig! Und dass man ein paar Grundüberzeugungen teil … Herzliche Grüße!

    1. Ja, das ist wirklich eine wunderbare Geschichte! Und die Jugendlichen haben bei den beiden Lesungen in Bremen und Bremerhaven sehr viel ernstgemeinte Anerkennung erfahren – vollkommen zu Recht. Und nun fahren wir nächsten Donnerstag nach Brüssel 😉

      1. Das klingt wirklich super!! Ich wünsche dir und den Jugendlichen eine ganz tolle Zeit in Brüssel und grüße ganz herzlich! Pauline

  3. Liebe Jutta Bassum/Twistringen , den 20.06.2017
    So , das ist schon der sonstwie x-te Versuch , mich für die Freundlichkeiten , die Du da im Um –
    lauf , auch für mich , bringst , ´mal wieder zu bedanken 🙂 ! Weil , irgentwie geht das immer
    schief , entweder wird´s nicht gesendet oder es funktioniert nicht ; wie beim sog . „Smart Phone“
    Seeeehr gurk , das Ganze :-\ !!
    Zunächst ´mal – Bitte so weitermachen und ich hoffe , dass wir uns bei der sommerlichen
    Schreibwerkstatt sehen , um den zarten Faden wieder aufzunehmen – und das sich die anderen
    auch wieder blicken lassen 😉 !
    Aber jetzt komme ich zum herben Thema : die scheiss Jugend & der Schulhausroman – beim
    Ersteren wundert´s mich , dass da überhaupt ´was ´rauskommt , weil ausser Mobbing/Bullying
    und auf Tippkisten `rumhämmern ist da ja gewöhnlich nicht viel ! Ich spreche da aus eigener
    leidvoller Erfahrung und -als Beispiel – versuchten Kartonmodellbauer , irgentwelchen doofen
    Jugendlichen ein reizvolles Hobby im Rahmen des Modellbau´s in der Schule beizubringen –
    Kurz : AUCH sie haben kapituliert (weia :-\) Schade ! Aber nicht um die Jugend , sondern um das Hobby !
    Und wie schreibt man nun einen Schulhausroman ? Nun , das hast Du ja wohl schon hinbekom
    men ; ansonsten gibt es auch die Serie „Schloss Einstein “ beim KIKA im öffentlich-rechtlichen
    oder „Hier ist Ian“, auch daselbst im KIKA ! Privatsenderschrott wird von mir geflissentlich voll
    ignoriert , dazu kann & will ich nichts beitragen . So , soll´s im Groben gewesen sein . . .
    Somit verbleibt , freundlich 🙂 grüssend Mia in Centopia , auf den Feen – Express (nicht Fern –
    Express ( F D ) (ist aber sowas Ähnliches) , wartend im INTERBAHNHOF 😉

    1. Lieber Frank, ich kann gut verstehen, dass du, angesichts deiner Erfahrungen, Jugendlichen nicht allzu weit über den Weg traust – meine Erfahrung ist, dass die allermeisten Kinder und Jugendlichen selbst so sehr von Abwertung bedroht sind oder sich bedroht fühlen (leider auch immer noch gerade an Schulen), dass manche von ihnen ziemlich wild um sich schlagen, um ihrerseits nichts abzukriegen. Aber das ist ein weites Feld 😉 Jedenfalls hat es mir mit genau dieser Klasse 10 L genau dieser Schule (ERNST) viel Freude gemacht zu arbeiten.
      Sehr herzliche Grüße!

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