„Der Fußball schreibt die besten Geschichten“

Ein lange verletzter Spieler schießt ein Tor. Ein spät eingewechselter Spieler schießt ein Tor. Ein Spieler, der in der kommenden Saison (oder in der vergangenen) für die gegnerische Mannschaft spielen wird, schießt ein Tor. Eine Mannschaft, die „eigentlich“ überhaupt keine Chance haben dürfte, gewinnt das Spiel. Dann passiert es. Jemand sagt: Die schönsten Geschichten (oder die besten) schreibt nun mal der Fußball. Was einerseits Quatsch ist und andererseits stimmt.

Die Geschichte meines Ringens um Fußball-Geschichten war lange Zeit eine Geschichte des Scheiterns. Wenn ich es gerade aufgegeben hatte, kam wieder jemand und sagte: Mensch, warum schreibst du nicht mal über Fußball?! Eine Frau, die was von Fußball versteht – das wäre doch mal eine richtig gute Sache! Weil ich das auch eine richtig gute Sache gefunden hätte, versuchte ich es wieder. Und wieder. Und trat wieder über den Ball.

Jede Sportart, überhaupt jede Betätigung konfrontiert uns mit spezifischen Möglichkeiten des Gelingens oder Scheiterns. Was genau uns im Schreiben, Fußballspielen, Laufen oder Malen herausfordert, ergibt sich aus dem jeweiligen Tun – und aus unseren Möglichkeiten und Erfahrungen. Für viele Menschen, die mit dem Schreiben beginnen, liegt die größte und manchmal kaum zu bezwingende Herausforderung darin, sich auf die Risiken des kreativen Prozesses einzulassen. Die Fixierung auf das „etwas gut machen wollen“ zumindest zweitweise aufzugeben und mutig ins Ausprobieren zu stürmen.

Ich bin überzeugt, dass Fußball eine Sportart ist, deren Struktur und Herausforderungen Geschichten ermöglicht, die sich mit unseren größten Ängsten und Hoffnungen verbinden. Das liegt daran, dass das zentrale Ereignis so selten ist – das Tor. Anders als beim Tennis, beim Handball oder Basketball kann im Fußball ein einziger geglückter Moment oder eben auch ein missglückter Pass, eine kurze Unkonzentriertheit ein Spiel entscheiden. Erst auf diesem Hintergrund entstehen Heldengeschichten wie die Netzer-Geschichte vom Spieler, der sich selbst einwechselt und dann das entscheidende Tor schießt (die anderen Details, die diese Geschichte so „groß“ machen, unterschlage ich hier).

Im Fußball verdichtet sich im günstigen Fall (wie in der Literatur) alles in dem einem Moment. Und die Unwahrscheinlichkeit des Ereignisses (das Tor) wandelt sich in die Unmöglichkeit, es zu verfehlen oder zu verhindern. Das leere Tor, der Elfmeter, das Spiel gegen eine Mannschaft in Unterzahl, der leicht zu haltende Ball. Nur dadurch entsteht die vermeintliche Lächerlichkeit. Ivan Lendl war in seinem erfolglosen Bemühen, Wimbledon zu gewinnen kein lächerlicher Held, sondern ein tragischer. Über den englischen Torhüter Joe Hart, ergießt sich hingegen eine Häme, die in anderen Sportarten kaum denkbar wäre.

Vielleicht begreifen wir das Besondere am Fu0ball, wenn wir uns klarmachen, wie vollkommen unsinnig die Rede vom „unverdienten Sieger“ in anderen Sportarten wäre. Beim Fußball ist es möglich, dass die schlechtere Mannschaft gewinnt. Dass die einen fünf Mal den Pfosten treffen und „das Spiel machen“ und die anderen treffen einmal das Tor – nach einem unberechtigten Elfmeter. Anders formuliert: Der Fußball begünstigt (im Vergleich zu anderen Sportarten) die „schlechtere“ Mannschaft, der Fußball-David ist ein bisschen kräftiger, als der Tennis-David oder der Basketball-David.

Das Ur-Missverständnis meiner Fußball-Schreibversuche bestand darin, dass ich davon erzählen wollte: Von den großen Momenten, wenn eine Mannschaft über sich hinauswächst, wenn ein von allen verloren geglaubtes Spiel doch noch einmal kippt, wenn 40000 nichts mehr ersehnen und herbeizuschreien versuchen, als das der Ball endlich reingeht – oder der Schiedsrichter abpfeift. Aber so funktioniert das Schreiben nicht. Weil es selten funktioniert „über“ etwas zu schreiben. Weil es immer eine Figur braucht oder eine Frage, ein Rätsel. Und diese Figuren oder Fragen oder Rätsel können sich auch abseits des Platz befinden, wie in meiner Geschichte Nachwuchssorgen, die schon etwas älter ist, mir aber immer noch ganz gut gefällt …

Dies ist die leicht überarbeitete Version eines Textes, den ich vor zwei Jahren hier auf dem Blog veröffentlicht habe.

28 Kommentare

  1. Du schaffst es noch, dass ich mich für Fußball interessiere. Und wodurch? durch deinen Satz: „Das liegt daran, dass das zentrale Ereignis so selten ist – das Tor. … kann im Fußball ein einziger geglückter Moment …das Spiel entscheiden.“ Ja sieh mal an, darauf bin ich noch nie gekommen. Gerade die Unberechenbarkeit des Ergebnisses macht den Charme des Fußball aus. („Beim Fußball ist es möglich, dass die schlechtere Mannschaft gewinnt“.) Paradox! Dabei tun die Präsidenten, Geldbeschaffer und Trainer inzwischen alles, um die Unberechenbarkeit in Berechenbarkeit zu verwandeln. Oder, wie ich glaube ein Brasilianer sagte „…..und am Ende siegen die Deutschen“.

    1. Das freut mich nun wirklich sehr, liebe Gerda! Ich habe vor einiger Zeit einmal gelesen, dass das einzige wirklich halbwegs zuverlässige Prognosekriterium beim Fußball (nach dem sich „Profi-Zocker“ richten) das erste Tor ist … Keine Ahnung, ob das stimmt, aber tatsächlich besitzt Fußball diese sympathische Eigenschaft, dem „Underdog“ eine zumindest kleine Chance zu geben …

  2. Liebe Jutta, dass ist eine geniale Darstellung des Fussballspiels!
    Du eröffnest Fussballhasser völlig neue Sichtweisen.
    Wenn jetzt die Einschaltquoten explodieren, dann ist dass Dein Verdienst!👏👏👍😜

    Herzliche Grüße und Dir ein super schönes Wochenende!
    Babsi

  3. Liebe Jutta, ich finde es wichtig, sich in der eigenen Disziplin immer wieder neue Ziele und Herausforderungen zu setzen. Ich „zwinge“ mich dazu gerade immer wieder Architekturen zeichnerisch zu betrachten und deine Worte zum Fußball und was deine Schwierigkeiten beim Darstellen des Fußballs sind, das kann ich auf die Architektur übertragen.
    Ein schönes WE – bei uns regnet es gerade in Strömen und wir wollten eigentlich noch die restlichen Notwendigkeiten für den Weddingmarkt einkaufen – liebe Grüße von Susanne

    1. Liebe Susanne, das finde ich auch! Wobei ich schon immer ein bisschen „angefixt“ sein muss – sonst funktioniert es erst recht nicht (also aus einer Überlegung, dass es doch ganz gut wäre, auch mal xy auszuprobieren …) Und es dauert manchmal so irrsinnig lange, bis ich herausfinde, woran es hakt. Weisst du das schon bei der Architektur? Sehr herzliche Grüße aus dem gerade sonnigen Bremen!

  4. Huhu,

    wow, sehr schön geschrieben. Und es ist definitiv was wahres dran.

    Ich find es immer unfair, wenn Leute über einen Spieler ablästern, der dann zum Beipsiel mal ein Tor nicht so gekriegt hat wie er sollte, weil er einen Pfosten oder sowas traf oder was anderes gerade nicht passte (beliebtes Beispiel bei mir im Dorf Özil von der deutschen Mannschaft) oder weil ihm die EM vielleicht nicht so liegt wie die WM und gerade nicht so die Leistung zeigt wie sonst (Müller aus der deutschen Mannschaft). Da wird ganz gern mal vergessen, dass die Spieler aber vor dieser EM wirklich großartiges geleistet haben und sicher nicht umsonst in der Mannschaft sind).

    So gibts bestimmt ähnliche Beispiele wie in anderen Mannschaften (Ronaldo von Portugal zum Beispiel war bestimmt auch schon mal besser als diese EM). Aber dann wird immer gleich abgelästert, dass sie ja nichts mehr können oder so. Das find ich sehr unfair, denn vieles ist wirklich nur einfach Glückssache. Manche haben eben das Glück und andere nicht. Ich find man sollte immer alle Seiten betrachten und dann mal sich überlegen ob es wirklich so angebracht ist rumzulästern.

    Zum Beispiel hat unsere Mannschaft vorher schon großes geleistet und ich seh wirklich nicht ein wieso das vermindert werden sollte falls sie heute doch nicht gewinnen sollten oder die EM an sich nicht gewinnen sollten. Immerhin sind wir trotzdem noch zwei Jahre Weltmeister. Und so ähnlich gehts wie mit anderen Mannschaften auch. England zum Beispiel. Klar ist das bitter, dass Island sie rausgekickt haben, aber nur weil sie das dieses Jahr nicht geschafft hat, heißt das eben nicht, dass sie als Mannschaft schlecht sind. Wobei ich ja teilweise selbst lästere. Ich glaub es ist einfach schwer objektiv zu bleiben.

    Aber so krass wie manche eingeschweißte Fußballfans, die ja offenbar oft meinen, dass sie von Fußball mehr Ahnung haben als die Nationalspieler selbst find ich teilweise schon extrem und manchmal auch fies. Ich denke, wenn man selber spielt und auf dem Platz ist kommt auch vieles nur aus dem Reflex raus.

    Ich find einfach manche Meinungen zu engstirnig und das ist schade. Sicher hatte jede Mannschaft irgendwo in der EM ihre großartigen Momente, egal wie gut oder schwach sie sind. Allein bei der EM dabei zu sein ist ja schon toll und es kann eben nur eine Mannschaft gewinnen.

    Okay, das wurde jetzt doch etwas lang, aber es passte gerade irgendwie etwas. Jedenfalls ist das wirklich toll geschrieben.

    LG Corly

    1. Liebe Corly, vielen Dank für deine Anmerkungen! Ich habe mich auch schon oft geärgert über die Selbstgefälligkeit und Ignoranz mit der manche alles immer besser wissen … Viele Grüße!

          1. Vielen Dank, das freut mich sehr! Bin gerade bei einer Sommerakademie in Bassum mit so vielen schönen Ideen und Geschichten und Figuren beschäftigt, dass ich deinen Hinweis jetzt erst gelesen habe … Viele Grüße!

  5. Interessant am „Fußball“ finde ich, dass sich so viele Menschen damit identifizieren können und zwar in sehr viel stärkerem Maße als mit anderen Sportarten – wie mir scheint. Da tun sich in der Tat Geschichten auf. Auch solche die in Abgründe führen.

    1. Ja, das stimmt, das ist wirklich sehr interessnt – auch unter dem Aspekt, wie weit das gehen kann, wie sehr es manchmal religlöse Züge annimmt … Und eine Mannschaft, die aus elf Personen besteht, bietet natürlich allein von der Anzahl eine gewisse Dynamik …

  6. Ich mag deinen Kommentar weiter oben: „Keine Ahnung, ob das stimmt, aber tatsächlich besitzt Fußball diese sympathische Eigenschaft, dem „Underdog“ eine zumindest kleine Chance zu geben … “ Genau hier sehe ich auch die Parallele zum Schreiben. Es kann der Traum eines „Underdogs“ sein, die eigene Geschichte nach vorne zu bringen und genau im entscheidenden Moment einzureichen. Und hier KANN auch eine „schlechtere“ (was auch immer das bedeuten soll) Geschichte gewinnen und eben nicht nur eine bereits, große, geförderte, bekannte. Das macht Hoffnung. Und wie häufig habe ich schon mit den Fußballmannschaften mitgefiebert, die sich bisher noch keinen Namen gemacht haben? Häufig! Und warum? Weil ich dann denke, dass auch Wunder möglich sind. Herzliche Grüße!

      1. Liebe Jutta,
        ja, das spricht mich sogar sehr an! Und es löst viel in mir aus: z.B. die Frage, wann es dazu kommt, dass die Fragen nach dem „was wäre wenn“ ausgelöst werden und wie es zu schaffen ist, sich nicht darin zu verlieren… ich denke, dass die Fragen „was wäre…“ dann aufkommen, wenn das eigene Leben gerade nicht „Land unter “ist, bzw. im totalen Chaos steckt. Meine Erfahrung ist, dass diese Fragen dann hochkommen, wenn die Situation es überhaupt ermöglicht und ich diese Fragen aushalte. Für mich war es wichtig das zu erkennen, um mich nicht total darin zu verlieren. Oft hing ich an der Frage, warum mich genau dieses Thema nicht früher schon beschäftigt hat.
        Mit Zufällen verhält es sich für mich ganz ähnlich. Wie schaffe ich die Balance zwischen dem Wissen, dass ich eben nicht alleinig, wie du es beschreibst, „meines Glückes Schmied bin“, aber gleichzeitig die Hoffnung nicht verliere, dass im Fußball-Sinne von dir beschrieben „auch die vermeintlich schlechtere Mannschaft durch Zusammenhalt und gute Ideen, viel erreichen kann“.
        Ich selbst habe schon viele Wendungen und Brüche erlebt und, wenn ich so zurückschaue, war es sehr häufig der Plan B (manchmal auch Plan C)oder die zweite Wahl, ausgelöst durch einen „Zufall“, die mich einen Schritt weiter gebracht hat. Und die Zeit, an der ich auf Biegen und Brechen an Plan A hing, war häufig quälend- Tunnelblick-ähnlich und es ging erst dann weiter, wenn ich in der Lage war, die Blickrichtung zu ändern. Danke für das Interview! 🙂
        Zum Buch selbst: den Heinrich Verlag gibt es gar nicht mehr, oder?
        Das ist jetzt etwas lang geworden hier…
        Ganz herzlichen Gruß!

        1. … oh je, weil ich deinen Kommentar, über den ich mich sehr gefreut habe, nicht „auf die Schnelle“ beantworten wollte, ist er mir jetzt fast „durchgerutscht“ … Ich glaube, der Umgang mit den Fragen, die du formulierst gehören zu den wirklich großen Herausforderungen im Leben. Es ist ja ein großer Unsinn, dass allen alles möglich ist, wenn sie „nur“ ihre „Leistung“ bringen usw. Gerade gestern war ein Artikel in der FAZ (!), dass gerade erfolgreiche Menschen im Rückblick die Rolle, die Glück und Zufall gespielt haben, vollkommen unterschätzen. Und gleichzeitig empfinde ich es auch als so notwendig, die (manchmal nur kleinen) Spielräume zu nutzen und sich von der Frage, ob und was dabei herauskommt nicht Freude und Mut nehmen zu lassen …
          Es gibt eine Geschichte von einem Pförtner im Bordell, die ich sehr mag, die auch davon erzählt – falls du sie noch nicht kennst: http://24geschichten.blogspot.de/2008/12/der-pfrtner-des-bordells.html
          Und ja, den Heinrich-Verlag gibt es nicht mehr, aber ich habe noch reichlich Exemplare, die ich gegen Portokosten und eine beliebige Spende an eine soziale Institution auch gerne verschicke … (Falls du Interesse hast, schreib mir eine Mail (juttareichelt@aol.com)
          Sehr herzliche Grüße!

          1. Danke für die Geschichte! Das ist ja witzig… ich kenne die Geschichte – sie steht in einem Buch von Jorge Bucay mit gesammelten Geschichten, das ich habe … Mich hat erst vor kurzer Zeit eine Freundin gefragt, ob ich Geschichten kenne, die Mut machen oder zum Umdenken anregen. In dem Moment ist mir so spontan nix eingefallen. Das Buch hatte ich total vergessen. Cool! 🙂
            Sehr herzliche Grüße zurück!

            1. Ich lege noch einen drauf … Ich kannte die Geschichte auch aus Buch von Bucay und wollte aber gerne auf sie verlinken können..Außerdem behauptet B. sie sei aus dem Talmud, ein Hinweis, dem ich sowieso immer mal nachgehen wollte … Aber mir hat bislang die Zeit gefehlt. Vielleicht liest das jemand, der mehr dazu weiß? Sehr herzliche Grüße!

  7. Guten Tag Jutta Twistringen, den 09.August 2016
    Dein Prolog zum Thema „Kuriositäten in der Fußballgeschichte “ ist doch schon recht gut – ich
    sehe das genauso – das Langweilige wie das Hochjubeln von N S KORRUPTI BAYERNSCHEISS
    hat man gewöhnlich restlos SATT ; aber solche Geschichten wie das E M – Spiel zwischen
    Island und England sind doch immer wieder sehenswert – in dieser Form sollte Dir eine ent –
    sprechende Geschichte wohl gelingen oder etwa nicht ( wie die Rodgau Monotones dies
    singen würden ??!)
    Freundliche Grüße vom
    Interbahnhof Frank Gottlieb

Ich freue mich über Kommentare!

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..