Schreiben und Scham (Monique Honegger Hg.)

Reihen-Umschlaggestaltung für den Psychosozial-Verlag, Gießen Info zu Hintergrund Raster-Bild: Raster für Fond: Covermotiv in Fläche von ca 25 x 25 cm einbauen und in Bitmap wandeln. Einstellung Bitmap: Halbtonraster 10 p per inch Winkel 45°

Wer schreibt, dem begegnet die Scham. Manche haben ständig mit ihr zu kämpfen, um andere scheint sie einen Bogen zu machen – und schlägt dann kurz vor der Abgabe einer wichtigen Arbeit zu. Über die unterschiedlichen Formen und Funktionen der Scham und warum das schwierige Schreiben über Schambehaftetes zugleich hilfreich sein kann, darüber informiert ungemein interessant und vielseitig der Sammelband Schreiben und Scham. Wenn ein Affekt zur Sprache kommt, herausgegeben von Monique Honegger.

„Das ist doch viel zu schlecht!“ (Kompetenzscham); „Was verrate ich damit über mich? Ist das nicht viel zu persönlich?“ (Intimitätsscham) „Das kann ich dir unmöglich schicken!“ (Zeigescham). Die Scham zeigt sich in unterschiedlichen Situationen und je stärker sie Besitz von uns ergreift, desto weniger sind wir in der Lage, sie zu erkennen, sondern starren nur noch auf den (vermeintlich) missratenen Text, der vor uns liegt. Hat jemals ein Mensch etwas so Belangloses geschrieben?

Wenn wir uns diese bange Frage stellen, wenn wir in einem zweiten Schritt weiterfragen, ob aus diesem sagenhaft schlechten, nicht irgendwie ein halbwegs guter Text werden könnte und wie das anzustellen ist – dann sollten wir der Scham einmal freundlich zuwinken, denn ohne sie würden wir vermutlich bedenkenlos jede „Trivialitätsschwelle“ unterschreiten und uns erst gar nicht um „literarische“ oder andere Kriterien Gedanken machen.

Wie alle anderen Gefühle auch, hat die Scham also auch eine positive Seite, ist nicht nur Barriere, sondern auch Türe und das Durchschreiten dieser „Schamtüre“ (Honegger) ermöglicht oft erst Entwicklungsschritte, die sonst unterblieben wären. Alles gut also? Leider nicht, denn die Scham kann Gefühle des Selbstversagens verursachen, die noch über, manchmal sehr ähnlichen daherkommende, Schuldgefühle weit hinaus gehen: Flüstert die Schuld uns ins Ohr: „Das hast du schlecht gemacht“, raunt die Scham: „Du bist schlecht“ und nimmt damit die ganze Person und nicht ein (korrigierbares) Verhalten in den Fokus.

Aus welchen Quellen kindlichen Erlebns sich ein solch machtvolles Gefühl des Ungenügens nährt, wie wir im Schreiben sowohl passive Wünsche nach Anerkennung und aktive nach „frecher Präsentation“ („Schaut, da bin ich!“) realisieren, darüber schreibt Markus Fäh sehr gut les- und nachvollziehbar in seinem Beitrag Hölle und Glückseligkeit. Psychoanalytische Überlegungen zur Scham beim Schreiben. Zudem beantwortet er die Frage, warum wir uns dieses Wechselbad der Gefühle überhaupt antun. Was haben wir schreibend zu gewinnen? „Wir müssen uns im Schreiben dem Schamproblem stellen, sonst können wir gar nicht anfangen zu schreiben, wir können es im Schreiben aber auch meistern, weil wir all das, was wir schreiben, nicht wirklich tun müssen.“ Wir müssen es nicht nur nicht tun, wir können damit spielen, wir können unseren gegensätzlichen Wünschen Ausdruck und Gestalt geben und dadurch „kreative Lösungen“ auch da finden, wo sie uns in der Realität nicht möglich waren oder sind.

Zwei Beispiele dafür, wie das Schreiben über Schambehaftetes sehr konkret helfen kann, Scham zu überwinden, liefert der Beitrag Schreiben statt schämen – Mit Sprache aus der Enge finden von Elena Ibello, Andrea Keller und Daniel Perrin. Wir sind arm war der Titel einer Schreibwerkstatt, die Andrea Keller 2010 im Auftrag der Caritas Zürich realisierte und in der von Armut Betroffene selbst zu Wort kamen. Es braucht keine große Phantasie um sich vorzustellen, wieviel Scham dafür von den Teilnehmenden zu überwinden war und was es andererseits für sie bedeutete, eigene Kreativität (wieder) zu entdecken und sich schließlich von „Armutsbetroffenen, die gerne schreiben“ in „Schreibende, die von Armut betroffen sind“ zu wandeln. (Das andere Projekt „Schreiben über das Sterben“ richtete sich an eine sehr heterogene TeilnehmerInnen-Gruppe und wollte Erkenntnisse zu der Frage befördern, was diese jeweils motiviert, sich mit dem Thema zu beschäftigen und welche Form sie dafür jeweils wählen.)

Es gibt sowohl weitere Beiträge, die eher Grundsätzliches behandeln, wie z. B. Scham, Schuld, Schreiben von David Garcia Nuñez und Matthias Jäger oder Scheitern, Scham und Produktion von Geri Thomann, aber auch solche, die konkreteren Fragestellungen nachgehen, wie etwa eine sehr interessante Fallanalyse des Spielfilms The Words von Daniel Ammann (in diesem Film geht es um einen Schriftsteller, der ein fremdes Manuskript als eigenes ausgibt, großen Erfolg damit hat und später dem tatsächlichen Urheber begegnet). Das vollständige Inhaltsverzeichnis lässt sich auf der Verlagsseite des Psychosozial Verlags einsehen.

Ich habe das Buch vor einigen Monaten entdeckt, ich habe es rasch und begeistert gelesen und nun für diesen Beitrag ein zweites Mal konzentrierter und nicht weniger begeistert. Obwohl ich mich dem Thema schon aus unterschiedlichen Perspektiven genähert habe, obwohl in meinem Alltag das komplementäre Thema Ermutigung bereits eine große Rolle gespielt hat, sind mir durch die Lektüre einige grundlegende Aspekte erstmals klar geworden. Für Menschen, die professionell Schreibprozesse Anderer begleiten, ist dieser Sammelband also eine absolute Bereicherung und uneingeschränkt zu empfehlen! Und Ähnliches gilt vermutlich auch für Menschen, denen die Scham beim Schreiben sehr im Nacken sitzt: Zu lesen, dass es (vielen) anderen ähnlich geht, dass der Umgang mit der Scham genauso ein (Lern)-Prozess sein kann, wie das Schreiben selbst und dass sie uns da, wo sie uns so richtig im Griff zu haben scheint, mehr über uns als über unsere Texte erzählt, kann vielleicht schon etwas Bewegung in die manchmal so festgefahrene Angelegenheit bringen …

Monique Honegger (Hg.) Schreiben und Scham. Wenn ein Affekt zur Sprache kommt.
Gießen: Psychosozial Verlag, 2015  (29,90 Euro)

31 Kommentare

  1. Liebe Jutta,
    das liest sich hochinteressant … und ist ein spannendes Thema: Der Unterschied zwischen Schamhaftigkeit, Verschämung und Unsicherheit, Ermutigung zur Öffnung, zur Präsentation, zum Offenbaren … das sind sicher Dinge und Themen, die manchen am Schreiben hindern bzw. dann zum Schreiben bringen … und letzteres schaffst Du durch Deine Arbeit sehr gut … dafür ein Danke schön!
    Die immer schamloser werdende Birgit 🙂

        1. Liebe Birgit, für diesen so überflüssigen wie naseweisen Hinweis hat mich der „Du sollst kein blödes Zeug schwätzen“-Gott direkt umgehend mit zwei extra nervigen Aufgaben für den heutigen Nachmittag belegt … (Aber immerhin habe ich gerade immerhin das Buch gefunden, das heute noch zurück in die Bib muss …) Hoffe auf deine Nachsicht 😉

  2. Danke für diesen Buchtipp zu einem sehr wichtigen Thema! Wird auch das Thema „Scham nach der Tat“ behandelt? Oft setzt die Scham ja erst verspätet ein, dann nämlich, wenn man sich recht naiv getraut hat – und Kritik, Naserümpfen oder Schweigen brechen über den Tollkühnen herein, der es gewagt hat, sich „auszustellen“. Ich kenne das von Kunstausstellungen, wo man, besonders beim ersten Mal, schrecklich empfindlich, wie enthäutet ist. Es gilt mindestens ebenso für Schreibprojekte. Dabei ist die Wirkung, die von „Kollegen-Schelte“ ausgeht, am verheerendsten, wie auch „Kollegen-Lob“ am ermutigendsten. Ein wichtiges Sonderkapitel: die Reaktion der Menschen aus dem engsten persönlichen Umfeld. Diese gleichmütig hinzunehmen – da braucht es verdammt viel Traute und Selbstbewusstsein.
    Also nochmal Danke fürs Thematisieren.

    1. Liebe Gerda, du hast vollkommen recht! Oft begegne ich in Schreibwerkstätten Menschen, die durch (meist unerklärlich kritische) Reaktionen ihrer Umgebung viel Zutrauen verloren haben und enormen Mut aufbringen müssen, um einen neuen Anlauf zu unternehmen. Im Buch liegt sicherlich das größere Augenmerk auf der beschämenden Situation, die dem Schreiben vorausgeht oder es begleitet, aber es tauchen verstreut auch die „Folgen“ auf, real oder vorgestellt. Und in dem Beitrag von Markus Fäh gibt es z. B. eine Falldarstellung, in der auf eine sehr erfolgreiche Lesung und die damit verbundenen Gefühle von Stolz und Freude sehr rasch große Beschämung folgt – allerdings braucht es da keine „äußeren“ Kritiker … Herzliche Grüße!

      1. danke, das Thema ist vielseitig, ich will deinen Tipp gerne aufnehmen. Persönlich ist es mir in meinen Anfangsjahren als Malerin passiert, dass ein mir befreundeter Maler besoffen wenige Minuten vor der Eröffnung der Ausstellung erschien, an meinen Bildern entlangrannte und schrie: schrecklich, schrecklich, schrecklich. Die nachfolgende Eröffnung war schwer zu überstehen, trotz des zahlreichen und positiv reagierenden Publikums. Ich brauchte Jahre, um mich von dem Schock wirklich zu erholen, und mich erneut traute auszustellen.

        1. Liebe Gerda, ich spekuliere wirklich sehr, sehr selten über die (schlechten) Motive mir unbekannter Menschen (und auch nur selten über die mir bekannter Menschen ;), aber nachdem ich nun, wie gesagt, schon oft von den gravierenden Folgen solch niederschmetternder Ereignisse gehört habe, frage ich mich, ob da nicht neben Gedankenlosigkeit, Zufall, usw. auch Neid und Missgunst eine Rolle spielen. Wie auch immer, gut, dass du wieder den Mut gefunden hast, deine Kunst zu zeigen und damit nach draussen zu gehen …

          1. Ja, Jutta, das habe ich dann langsam gelernt: mich zu fragen: was hat das eigentlich mit mir und meiner Kunst zu tun? Und was mit dem Charakter des anderen? Künstler sind oft besonders brutal im Fertigmachen von Kollegen, weil sie nur das Eigene sehen und wertschätzen und verteidigen. Sie fühlen sich durch Kunstkonzepte anderer bedroht, wie man auch aus der Kunstgeschichte weiß. Dabei wäre besondere Feinfühligkeit am Platze, schon weil es keine objektiven Kriterien für gut und schlecht gibt.

            1. Gerade wer sich durch abwertende Urteile (eigene oder die von anderen) bedroht fühlt, neigt wohl leider dazu, andere abwertend zu beurteilen … Und ich bin immer wieder überrascht, wie viel schon auf dem Spiel steht, wenn es um Kunst, um Literatur geht, selbst für Menschen, die das z. B. in einem Tageskurs „nur mal ausprobieren“ wollen, wie groß, auch da die Wünsche nach Anerkennung schon sein können – und wie viel mehr dann, wenn es „Beruf“ und/oder Profession ist …

  3. Ein spannendes Thema, dessen Existenz mir nicht bewusst war. Und somit auch schön, dass es Herausforderungen beim Schreiben gibt, die ich nicht oder nur in geringem Maß zu bewältigen habe 🙂

    1. Das kann ich sehr gut verstehen! Ich habe ganz ähnlich gedacht – wobei mir dann wieder einfiel, dass ich früher durchaus schon mal für möglich hielt, dass jemand, dem ich gerade einen Text von mir geschickt hatte, leider nie mehr mit mit reden würde – so sprachlos ob des vollkommen misslungenen Textes, den ich da verfasst hatte … Aber das ist ja nicht weniger erfreulich 😉

  4. Wieder mal gut zu sehen, dass das „häusliche“ Problem vor einer Abgabe oder dem drücken des Knopfes „Veröffentlichen“ auch andere betrifft und sogar in Büchern erwähnt wird. Dass es dafür sogar eigens Namen gibt wieTrivialitätsangst. Danke für diese Buchtipps!

  5. Die Scham bekommt hier eine Plattform und fühlt sich gleich willkommen! Danke!!
    Ich kenne diese aufgeführten Scham-Arten ziemlich gut, Insbesondere Eine von ihnen ist bei mir sehr dominant. Welche verrate ich nicht, das wäre mir zu persönlich. (nicht, dass ich sie mit dieser Aussage verraten würde 😉 )

    1. Ich freue mich über diesen Kommentar und die Vorstellung, dass sich die Scham hier willkommen fühlen kann besonders – denn tatsächlich ist es wohl so: nur wenn wir ihr einen gewissen Raum freundlich zugestehen, können wir verhindern, dass sie uns über den Kopf wächst … Und was die Frage danach betrifft, was Texte über uns verraten: Da habe (nicht nur) ich die komische Erfahrung gemacht, dass die Trefferquote von „das hast du doch bestimmt (nicht) erlebt“ unterhalb der Zufallswahrscheinlichkeit liegt – die nächste Frage ist dann: Glaubt es dir jemand ,-)

      1. Da erinnerst du mich an etwas. Mir wurde mal meine Tasche geklaut. Danach überschlugen sich die Ereignisse. (mag ich nicht näher darauf eingehen) Zu dieser Zeit war ich in einer Schreibgruppe und habe darüber geschrieben und das vorgelesen. Vorher hatte ich lange mit mir gehadert, ob ich mich traue, über etwas zu schreiben, das so nah an mir war. Die Reaktion eines Zuhörers war: Naja, ehrlich gesagt, fand ich deine Geschichte ziemlich unrealistisch. Diese Reaktion hatte mich total verblüfft, denn es war biografisch. Aber das Leben hatte da eine Geschichte geschrieben, die so außergewöhnlich war, dass es aburd erschien.

        1. Das habe ich in Werkstätten schon sehr oft erlebt – und auch den Missmut der Schreibenden, die gesagt bekamen, dass ihre realen Erfahrungen „unglaubwürdig“ wären … Großes Thema, aber auf jeden Fall schon mal ein erfolgreicher Schutz gegenüber unerwünschten autobiografischen Lesarten, der aber ja allerdings unerwünschte Nebenfolgen hat 😉 Ich habe schon gute Erfahrungen gemacht mit dem Hinweis, dass im Unterschied zu manch anderen Texten, dieser konkrete kaum autobiografische Bezüge aufweise …

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