(8) Geschichtengenerator in Aktion

FullSizeRender 20Etwas, auf das ich nur noch selten reinfalle, ist der Gesichtsausdruck von Menschen, die gerade eine Schreibanregung erhalten haben. Von mir erhalten haben. Und die dann, manchmal verzweifelt, oft ratlos aussehen. Deren Ratlosigkeit von Verständnislosigkeit geprägt sein kann („Was um Himmels Willen sollen wir jetzt machen?“) oder auch von Unwillen („Wo bin ich hier gelandet?). Es ist nicht so, dass es mir mittlerweile überhaupt gar nichts mehr ausmacht in diese verzweifelten Gesichter zu sehen. Aber es ist so, dass ich weiß, wie es weitergeht. Nicht manchmal oder meistens. Immer. Na gut – fast immer.

Fast immer ist es so, dass ich die verzweifelten Gesichter bald schon deswegen nicht mehr sehe, weil sie nicht mehr da sind. Sie haben nicht den Raum verlassen, sie haben ihre Köpfe gesenkt, wie man es tut, wenn man schreibt. Sie sitzen und schreiben und sehen kaum einmal auf. Sie sind nicht mehr verzweifelt, aber taub. Jedenfalls reagieren sie nicht. Ich räuspere mich, ich sage in der angenehmsten mir möglichen Tonlage, dass die Schreibzeit (selbstverständlich entsprechend der Ankündigung) sich dem Ende nähert. Das Ende erreicht hat. Überschritten. Ich sage dann immer, dass es weniges gibt, das mich so unglücklich macht, wie schreibende Menschen in ihrem Tun zu unterbrechen – nichts passiert. Wirklich! Es ist unglaublich, in was für Zombies sich absolut höflichkeitsbegabte Menschen verwandeln, wenn sie einmal Fahrt aufgenommen haben, wenn sie die Schreiblust gepackt hat.

Nun haben die Menschen in diesem Raum zwei Vorteile auf ihrer Seite: Sie haben einander und damit eine sich im Raum immer neu aufladende Schreibenergie und sie haben nicht allzu viel Zeit. Beides hilft vermutlich.

Warum ich das erzähle? Weil ich überzeugt bin, dass wir auf dem Weg zu einer Schreibidee oft durch ein paar ziemlich ungemütliche Momente hindurch müssen, in denen wir mit der Möglichkeit konfrontiert sind, dass uns nichts einfällt und vermutlich auch nichts einfallen wird. Niemals. (Wie es der Zufall will, hat Herr Hund gerade einen wunderbaren Text darüber geschrieben, wie es ist, wenn jemandem nichts einfällt.) Vielleicht fühlen wir uns wie die phantasielosesten Menschen, die in der langen Menschheitsgeschichte jemals das Licht der Welt erblickt haben. Wir sollten das also nicht zu ernst nehmen …

Und ich erzähle davon, weil morgen eine ganz reale Schreibwerkstatt stattfindet. Vielleicht werden sich dort zwei Menschen begegnen, die sich zunächst nicht erkennen? (Das steht nämlich heute auf der ausgewählten Karte: „Ich habe dich nicht erkannt!“)

Weil sie sich so verändert haben? Oder nur eine/r von beiden? Hat die Sehkraft nachgelassen oder ist es dunkel? Ein Stromausfall? (Oh nein!) Ist es immer unangenehm, jemanden nicht zu erkennen oder kann es auch ein lachender Ausruf sein: „Was ist denn mit dir passiert? Ich habe dich zuerst gar nicht erkannt!“Gibt es Orte, an denen wir jemanden so wenig vermuten, dass wir sie oder ihn nicht erkennen würden? Oder liegt es mal wieder an unserer Unaufmerksamkeit?

Schreibanregungen, so wie ich sie verstehe, sind immer auch eine Einladung, „andersrum“ zu denken oder zu suchen. Vielleicht ist die „erkannte“ Person gar nicht die, die sie zu sein scheint. Oder statt sie anzusprechen, flieht jemand, weil er oder sie vermutet, das ist ja …

Ich freue mich heute ganz besonders über Unvollkommenes. Über Anfänge oder lose Sätze. Über erste vage Ideen. Und – na klar – über richtige Geschichten freue ich mich auch …

Hier gibt es den „kompletten Geschichten-Generator“ und wer die Kategorie „Geschichtengenerator“ anklickt, kann sich einen Eindruck davon verschaffen, wie unfassbar viele tolle Geschichten und Ideen in den letzten Wochen schon entstanden sind.

77 Kommentare

  1. Ich muss schmunzeln …
    In Berlin hatte ich mich ein halbes Jahr lang ebenfalls in einer Schreibgruppe eingefunden …
    und NATÜRLICH war die Zeit immer zu kurz.
    Doch es machte großen Spaß – vor allem, weil die Gruppe so klein war (so um die 8 Teilnehmerinnen), dass wir uns die Texte hinterher immer vorlesen konnten.
    Und wie sehr ich mich jedes Mal freute und wunderte, dass die gemeinsam benutzen Worte zu so gänzlich unterschiedlichen Gedankengängen und deren Geschichten geführt hatten.

    Viel Freude bei der neuen Schreibwerkstatt.
    Herzliche Grüße,
    die Mushelfinderin

    1. Vielen Dank für die guten Wünsche – ich bin recht zuversichtlich. Und ja: das ist immer wieder toll zu erleben, wie vielfältig, wie bereichernd die Texte sind …

  2. …ein klein wenig beneide ich dich und die geister in der schreibwerkstatt / hier am ort gab es auch eine kleine gruppe die solches wollte / doch leider hat der zank um literatur und was es sei und wo es anfange und dann aufhöre etc. das ganze zum erliegen gebracht / so wurde eine gute idee durch doofe ansprüche geknickt / aber nicht vergessen….

    1. Ja, das kann ich mir gut vorstellen: Sobald es um Literatur, ums Schreiben geht, sind ganz schnell so viele (unterschiedliche) Wünsche und Ansprüche im Raum und vor allem ganz große Emotionen. Angeblich fördern deswegen amerikanische Unternehmen „Lesekreise“, die während der Arbeitszeit stattfinden: Weil wir so viel „Diskussionskultur“ dabei lernen können … Vielleicht guckst du dir ein paar Menschen aus und unternimmst einen zweiten Anlauf? Herzliche Grüße und viel Glück!

      1. Ja dieses Thema birgt Zündstoff / die einen wollen Rilke sein und die anderen bekommen bei Bukowski Hautausschlag / und so geht es die Reihe durch / insgesamt liegen da zuweilen Anspruch und Wirklichkeit etwas weit auseinander / spannend dennoch

        1. Schreibwerkstätten stehen und fallen mit einem guten Schreibcoach oder Kursleiter… selbstorganisierte Gruppen stehen und fallen einfach nur auseinander. 😉

          1. Auch hierbei sehe ich es differenziert / eine schreibwerkstatt in der die Teilnehmer für die Vermittlung von Wissen bezahlen / oder eine schreibwerkstatt ein Zusammenschluss von Menschen die gemeinsam einen Raum formen und nach außen wirken wollen und Texte in die Öffentlichkeit senden wollen.
            Zwei durchaus verschiedene Ansätze.

          2. Rein „gefühlt“ würde ich dem in der Tendenz zustimmen – aber ich weiß von einer ganzen Reihe Schreibgruppen, die auf eine lange Geschichte zurückblicken können …

          3. ja gibt es / einen oder mehrere räume wo text und menschen mit herz dafür ein zuhause haben / wo kindern mit leseschwäche die liebe zu buchstaben nahe gebracht wird / wo märchennächte stattfinden wo kater murr gelesen wird wo geschrieben wird und bilder zur betrachtung einladen / wo tee dampft und lachen den raum erfüllt / wo schreibmaschinen und digitales sich vermischt / wo eigenes und fremdes in den blick geschoben wird / wo buchstaben fliegen und der himmel von unten wie ein gedicht aussieht.

            ….oder habe ich geträumt ?

            1. Lieber Ludwig, seit vielen Jahren träume ich immer mal wieder davon, morgens schreiben zu können und an zwei oder drei Nachmittagen einen Raum zu öffnen, in dem Menschen zusammenkommen, um zu schreiben, was und wie sie wollen: Große und Kleine, solche, die sich Unterstützung wünschen und andere, denen eher an Gesellschaft gelegen ist. Es kömnten Geschichten und Gedichte entstehen, aber auch Notizen oder Behördenbriefe. Manchmal denke ich, dass ich gar nicht mehr ganz weit davon entfernt bin. Jedenfalls: wenn es soweit ist, werde ich es dich natürlich nicht nur wissen lassen, sondern dich bitten, diese schöne Beschreibung auf die Wand zu malen 😉

            2. Oh, du hast garantiert nicht alleine geträumt… ich veranstalte im Juni am Bodensee ein Schreibfestival, das geht genau in diese Richtung. In einer dieser schrulligen Konzertmuscheln aus den 80ern mit Blick ins Grüne und aufs Wasser. Dort sieht der Himmel von unten wie ein Gedicht aus. Kommst du vorbei?

  3. Um sich zu Hause in Schwung zu bringen, gibt es den Zeitdrucktrick den ich von Pauline gelernt habe: die Stoppuhr auf 3 Minuten (oder was auch immer) stellen, aber ich denke, kürzer ist besser, und dann los.
    Funktioniert 🙂

    1. Zuweilen mag dies dem einen oder anderem helfen / schreiben ist aber auch sich kennen zu lernen und meistens funktioniert dies mit Zeitdruck nicht allzu gut / meine Erfahrung

      1. stimme ich dir voll zu, aber wie Jutta sagte, geht es darum diese Anfangsverzweiflung zu überwinden, die auch mich befällt und dann ist dann solch eine imaginäre deadline genau das richtige. Die ‚Panik‘ es nicht zu schaffen bringt meine Gehirnsäfte zum brodeln 😉

      2. Es hört sich immer so grottenlangweilig an, aber ich komme mal wieder nicht an dem Hinweis vorbei, dass die Schwierigkeiten, denen wir beim Schreiben begegnen variieren. Zwischen den Menschen einerseits und auch bei dem selben Menschen zu unterschiedlichen Zeiten andererseits. Und deswegen kann der einen helfen, was den anderen in die Verzweiflung treiben würde usw. Ich bin auch keine Freundin des Zeitdrucks, aber mir hilft er manchmal schon, Gas zu geben – für die Feinarbeiten ist er dann allerdings ein Graus …

        1. Ich finde mich da sehr wieder- dankeschön. Die Anfangsverzweiflung hat sich in sehr vielen Gesichtern bei mir gezeigt. Manche sind alte Bekannte, andere scheinen neu. Was mir hilft, ist, daran festzuhalten, dass auch diese Gesichter in der Lage sind, sich zu verändern. Oder anders gesagt, ich glaube einfach daran, dass das wieder vorbei geht und Neues enstehen wird.

    2. Ich kenne das auch aus anderen Bereichen, z.B. um Projekte zu entwickeln, bzw. zu realisieren, die auf einer imaginären To-do-Liste stehen: Stoppuhr auf zehn (15) Minuten und dann alles wichtige dazu aufschreiben: Was braucht es und wer könnte mitmachen usw. Und danach? Entscheiden, ob man es wirklich weiterverfolgen will (dann aber auch wirklich ,-) oder ab in die Tonne …

      1. Da ich kränkele, was eigentlich grob untertrieben ist, muss ich diese Woche mit Generatorbeitrag eventuell passen (eventuell, denn ich habe schon eine Idee, mehr oder weniger Recycling, aber Idee ist Idee 😉 ), aber ich wollte mich kurz zum Stoppuhren-Verfahren melden, kenn ich nämlich auch. Manchmal klappt’s, manchmal nicht. Wenn ich, so wie mit meiner „größeren Sache“ derzeit, aber erstmal MACHEN will und gar keine Zeit dafür haben darüber nachzudenken wie in der ersten Skizze das und jenes und dies auch noch sein muss, dann spiele ich gegen mich selbst. Eine gewisse vorgegebene Zeit MUSS ich dran bleiben, egal wie, auch wenn ich nur Mist mach, sonst gibt’s keinen Belohungszettel (ich habe ein Gefäß in das ich für jede gemachte dieser Zeitspannen einen Zettel lege, wenn ich zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Anzahl von Zetteln habe, gibt es eine Belohnung), die erste Woche oder so muss ich kämpfen, dann fließt es. Das System habe ich von meiner Heidelberger Zeit, da gab es eine andere Schreibende und wir haben manchmal versucht uns gegenseitig anzuregen indem das was oben beschrieben ist mit der Stoppuhr gemacht haben. „Beat the clock“ hieß das bei uns (sie war Amerikanerin), da wir beide ehrgeizige Charaktere und Perfektionisten waren hat das oft geklappt.

        1. Deine Belohnungszettel gefallen mir, ich glaube das führe ich bei mir auch ein, plus ich kann mir eine Riesenbelohnung ausdenken wenn ich 20 zusammen habe 🙂
          danke für den Tipp und hab ein schönes Wochenende, together we’ll beat the clock 😉

          1. Das mit der Riesenbelohnung ist ein unglaublicher Ansporn, aber auch sehr schwierig, zumindest bei mir hab ich festgestellt. Ich neige dann sehr dazu, das Luxus-Kapitel aus „Der Weg des Künstlers“ zu ernstzunehmen und gleichzeitig auch gar nicht, sonst würde ich ja automatisch zu etwas tendieren, dass „offiziell“ einen kleinen, für mich aber sehr großen Wert hat. Momentan versuche ich mich damit zu ködern, dass ich mir eine Tüte Nimm2-Bonbons kaufe, wenn ich meine Zettelzahl schaffe. Kostet nicht viel, kaufe ich mir sonst nie und hatte meine Lieblings-Oma immer für mich, damit verbindet sich also was sehr positives. Ich hatte auch schon mal, dass ich ein wunderschönes Wollknäul hier hatte und mir immer wieder gesagt habe, das wird erst dann verstrickt, wenn ich die Zettelzahl voll habe. Ich kenne jemanden, die das mit der Belohnung auch macht, eine blockierte Plastikerin, wenn die durchhält verspricht sie sich jedes Mal auf etwas aus ihrer Kindheit zu sparen und ist mittlerweile bei einen paar Rollschuhen angekommen mit dem sie zu Hause rumfährt. Geht also auch anders.

        2. Vielen Dank für den Hinweis! Das werde ich unbedingt in meine Liste mit Tipps zum Anfangen und Durchhalten aufnehmen – und gerade deine Beispiele geben dem ganzen eine charmante Note 😉

        3. Wie du belohnst dich selbst? Mit kleinen zetteln und dann? Gibt es Schokolade?
          Sehr psychologisch erscheint mir das.

          1. Schaust du mal 2-4 Kommentare in dieser Verschachtelung oben, da habe ich das tomorrowdefinitely gegenüber erläutert. In diesem Fall – also bei diesem Projekt – gäbe es dann eine Tüte Nimm2-Bonbons, die reichen möglicherweise ein ganzes Jahr lang, weil ich nicht viel davon esse. Ich kenne auch Leute, wie die andere erwähnte Künstlerin, die auf was Großes sparen (sie hat jetzt Rollschuhe), mein Mit-Künstler/Assistent hat sich mal eine Autowäsche in der Waschstraße statt per Hand geleistet, jemand anderes, eine Violinistin aus meiner Künstlergruppe, hat sich neue Seiten fürs Musikinstrument gekauft… Solcherlei. Es muss ein jeder selbst das finden, das den individuell besten Ansporn gibt. (Ich will nicht ausschließen, dass es Leute gibt, die sich dann ein neues Smartphone oder ähnliches zulegen, es wird alles geben.)

  4. Er war allein gekommen und liess seine Blicke schweifen. Der grosse Saal war nur von einem alten Kronleuchter und Kerzen erhellt, deren flackerndes Licht dem Ort eine schummrig-schaurige Atmosphäre verliehen.
    In der Halbwirklichkeit fühlte er sich wohl. Am anderen Ende tanzten einige Paare Polka und stiessen spitze Schreie aus jedesmal wenn sie gegen einander stiessen.
    Er lehnte sich an die Wand und beobabchtete die schemenhafte Halbwelt, von irgendwo kam Weihrauchgeruch herüber. Keine Gesichter zu sehen seltsam befreiend, man konnte jeder sein. Wahrscheinlich war der Mann dort drüben in Frack, Zylinder und Zorromaske ein Buchhalter Montag bis Freitag aber was bedeutet das in diesem Moment?
    Wir könnten alle alles sein. Es gab einen Grund für sein Hiersein aber er konnte sie nicht finden…
    Plötzlich vernebelte eine Schwade Zigarettenrauch sein Gesicht. Hustend und verärgert wendete er den Kopf und blickte in das grün-grausige Antlitz einer Hexe mit Warzen auf der Hakennase. Ich habe dich erkannt, sagte sie mit einem Lächeln, welches fehlende Zähne vermuten liess, und zog ihn mit sich.

    1. Wie Karneval und zugleich ganz anders – gefällt mir sehr! (Und vielleicht liegt es am Weihrauchgeruch, dass mir ein Gedanke von gestern einfällt: Welche Begegnungen könnten in einer Kirche stattfinden? Innerhalb von ein, zwei Generationen ist es nicht mehr erklärungsbedürftig, nicht in die Kirche zu gehen, sondern es zu tun …

      1. Es war mir eine Freude.
        Was wären die Autoren-Eleven ohne ihre Lehrer, ihre Mentoren und die Menschen die sie begleiten und coachen auf ihrem schreibenden Weg?
        Auch hier noch mal mein lieber Dank für Deine Ideen und wie Du sie umsetzt.

  5. Entschuldigung, ich bin auf die falsche taste gekommen und der Kommentar war weg.
    Ich war so frei und habe zu deinem Blog verlinkt,
    herzliche Grüße von der Karfunkelfee

    1. Gefällt mir sehr dieser Text! Ich werde ihn mir ein weiteres Mal in Ruhe durchlesen und mich an den starken Bildern der Störung und ihrer Abwehr erfreuen, denn ehrlich gesagt: Auch wenn ich gelegentlich andere störe, weit häufiger bin ich ja selbst diejenige mit einer Tauchglocke aus Buchstaben auf dem Kopf … Großen Dank!

  6. Die Karte „Ich habe dich nicht erkannt“ habe ich bereits einmal verwendet http://gerdakazakou.com/2016/02/05/luise-juttas-geschichtengenerator-in-aktion/
    Dabei ging es um die Anonymität, in der ein Modell der Kunstakademie lebt. Die Studierenden kennen zwar den Körper, aber über die Person wissen sie nichts, wollen/sollen auch nichts wissen. Der Körper des Modells ist ein Objekt für Ausbildungszwecke – wie die Leiche in der Anatomie für beginnende Ärzte.
    Liebe Jutta, durch deine heutige Karte fühle ich mich aufgefordert, dieser anonymen Luise, die später von ihrem Maler ermordet wird, noch einmal nachzuspüren. Wenn die Geschichte fertig ist, werde ich sie hier verlinken. Vielen Dank für deine Anregung. Und viel Spaß bei der Schreibwerkstatt! Gerda

    1. Ich bin sehr begeistert von deiner „Reduktionsgeschichte“, die ja irgendwie beides ist: verdichtet und zugleich öffnend … Bin mir nicht sicher, ob ich damit treffe, was mich daran so anspricht – in jedem Fall herzliche Grüße und besten Dank fürs Mitmachen!

    1. Mir gefällt das sehr, dass du auch die vermeintlichen Stolpersteine für dich nutzt, sie aufgreifst, statt dich von ihnen aus dem Konzept bringen zu lassen! Und die Kombination von Foto und Text spricht mich sehr an …

  7. Sie hatte die Kontakte auf ein Minimum beschränkt. Zu Weihnachten und zum Geburtstag ließ es sich nicht vermeiden – Termine, die ihr wie ein Stein im Magen lagen. Immer die Angst, ob er wieder getrunken hatte, ob sie vor verschlossener Tür stehen mussten, weil er mal wieder vergessen hatte, dass sie kommen wollte. Das Thema Alkohol war tabu. Dann konnte nämlich er fuchsteufelswild werden. Von wegen, man gönne ihm nicht sein wohlverdientes Bier. Und dann würde er vor lauter Wut und Trotz und schlechtem Gewissen noch mehr in sich hinein schütten. Er ließe sich nichts vorschreiben, basta.

    Jetzt hatte er angerufen. Krankenhaus, in der Firma umgekippt. Kein Ahnung, warum. Ob sie seine Jacke von dort holen könne, der Hausschlüssel sei in der Tasche, er bräuchte ein paar Sachen. „Weihnachtsfeier mit den Kollegen.“, dachte sie und spürte schon wieder ihren Magen.

    Mit der gepackten Tasche ging sie über den Krankenhausflur, sah in die Zimmer, fand ihn nicht, bekam Panik. Früher hätte Tom sie begleitet, mürrisch zwar, aber hinterher hätten sie noch einen Kaffee zusammen getrunken, und vielleicht hätte er sie in den Arm genommen, nur kurz und wenig herzlich und schnell wieder heraus gewunden. Vergiss ihn, dachte sie. Das hier muss ich alleine schaffen.

    „Hallo, hier bin ich!“, rief jemand aus einem der Zimmer, in die sie schon vergeblich geschaut hatte. Ein fremder uralter Greis winkte ihr zu. Elend abgemagert, gelb im Gesicht, mit riesigen Ohren und Händen, im Krankenhaushemd, leicht schwankend hielt er sich am Bett fest. „Warum läufst du denn an mir vorbei?“

    „Ich habe dich nicht erkannt, Papa.“, wollte sie sagen, schluckte es gerade noch rechtzeitig herunter. „Ich habe dir deine Sachen gebracht. Ein bisschen Wäsche, Handtücher, Schlafanzüge. Wie geht es dir denn? Gut siehst du aus.“

    1. Liebe Marion,
      toll dass Du die Hürde genommen hast … das ist eine sehr bewegende Szene, richtig, richtig gut. Und sogar Tom bekommt noch einmal einen Auftritt…bitte weiterschreiben!

    2. Ich kenne solche Szenen zuhauf aus der Realität und irgendwann sollte man das vielleicht „abgestumpft“ nehmen sollen, wenn man das so oft sieht, aber das tut es nicht. Es berührt mich. Besonders stark, dass man im vorletzten Absatz den Menschen hinter der Flasche erkennt (was man als Angehörige/t oft durch Tunnelblick nicht kann oder auch nicht will) und durch die Reaktion der Tochter auch Mitgefühl, die gesunde Art, nicht die kranke, die Angehörigen oft eigen ist, empfinden kann. Das ist schön. Es ist so leicht zu vergessen, dass hinter der Flasche (oder einem anderen Suchtmittel) immer auch ein Mensch ist, der sich bestimmt nicht als junger Mensch vorgenommen hat „Mein Lebensziel ist ein Saufbold [Junkie, Tablettenfresser, Spielsüchtiger, Essgestörter etc.] zu werden.“

      1. Mitgefühl zu empfinden gegenüber einem Alkoholiker fällt schwer, besonders, wenn es sich um die eigenen Eltern handelt. Gelingt vielleicht erst mit großem zeitlichen Abstand.
        Ich danke dir für deinen Kommentar!

        1. Abstand ist wichtig, in meiner eigenen Erfahrung (Vater trinkt, Stiefvater trocken, Mutter tablettensüchtig und beschaffungsdelinquent) war es weniger die Zeit, als die Abnabelung. Aber so was ist kompliziert. Bei meinem Stiefvater ging es leicht, weil er verglichen mit den anderen beiden sofort Mensch war, also emotional reagierte, bei meinem Vater brauchte es ein bisschen Psychologie – kann auch nach hinten los gehen, man ist ja als Trinkerkind geneigt ein Warum zu wollen, das es eigentlich nicht gibt, ich bekam irgendwann, als ich schon viel über die Krankheit wusste eins -, und bei meiner Mutter bin ich die einzige, die durchsteigt. Weil ich irgendwann geschafft habe den Punkt in ihrem Verhalten zu erkennen, an dem man merkte, die will sich so nicht benehmen, die kann nicht anders. Das braucht aber eine große Distanz zu dem Menschen.

      1. So langsam werde ich immer röter. 🙂
        Ich freue mich sehr darüber.
        Das Verdichten ist mir sehr wichtig – ich hätte noch so einiges schreiben können. Aber weniger ist mehr.

  8. Ich hab nächste Tage vielleicht was größeres, jetzt aber einen kleinen damit nichts zu tun habenden Anfang für dich. Der ist so gängig unter im erweiterten Sinne meinesgleichen, dass ich mich wundere, dass er mir nicht innerhalb von einer Minute nach dem ich die Vorgabe gesehen habe einfiel. Es ist wirklich so, egal wo ich wegen irgendwas mit Reha war (Physiotherapie, Umschulung …) und Menschen getroffen habe, die später im Leben ein Handicap oder eine chronische Erkrankung bekommen haben, die erzählen mir das. Die erzählende Person hier könnte also vom relativ gängigem Asthma oder Diabetes (beides Krankheiten wegen derer man eventuell etwas in seinen Gewohnheiten ändern muss) über MS, Krebserkrankungen, Sinnesbehinderungen (Seh- oder Hörschäden zum Beispiel, die vorher nicht da waren) bis zu irgendwelchen Unfallfolgen mit physischen Handicaps alles mögliche haben. Etwas psychisches ist auch möglich, das hat ja wenn es nicht gerade Burn-Out ist auch sein Stigma. Mir selber ist das auch ab und zu mal passiert, in Situation in denen man zunächst relativ normal mit mir umging in der Annahme mein Zustand sei Unfallfolge, dann aber die Wahrheit erfuhr.

    (Hast du da oben in dem einem Kommentar meine von mir angemerkten Zeichensetzungs-Vertipper mit dem ] und “ korrigiert? Danke!)

    Aber nun bittesehr, los geht‘s:

    Jahrelang hatte Dani Zwei mich auf der Straße gegrüßt. Jedes Mal, immer genickt und wenn wir uns nur über Autodächer erkannten gewunken. Jetzt tat sie so als gäbe es mich nicht mehr. Ich habe dich nicht erkannt! behauptete sie. Obwohl ich nicht anders aussehe wie früher, ich bin jetzt nur anders. Ein Mensch, den es besser ist nicht zu kennen. Weshalb sie mich am besten auch nicht erkennt.

    1. Mir kommt es jetzt (für mich!) fast auch ein bisschen seltsam vor, dass ich an diesen Komplex des „so tun, als ob man jemanden nicht erkannt hat“ noch gar nicht gedacht habe – obwohl es das ja in vielen „Fällen“ gibt. Was du beschreibst, war mir nicht klar, obwohl es mir unmittelbar „einleuchtet“, dass Menschen sich so verhalten. Mir ist es schon oft begegnet in den Erzählungen von Menschen, die mit Todesfällen oder schwerer Krankheit zu tun hatten … Seitdem ist mir sehr nachdrücklich klargeworden, dass jedes noch so unsichere Eingeständnis von „Ich weiß gerade gar nicht, was ich sagen soll …“ vermutlich besser ist, als jemanden „nicht zu sehen“ …
      Ach ja, und ich habe das gerne korrigiert und deinen entsprechenden Hinweis gelöscht und wünsche (bisschen verspätet) gute Besserung!

      1. Ich danke und muss mitteilen, dass verspätet nicht verspätet ist, denn es ist immer noch akut. Aber ich werde hier mit allerlei „Hausmitteln“ von Rotlicht bis Wasabimeerettich versorgt, also kein Grund zur Sorge.

        Nur so aus eigener Erfahrung (inklusive all dem das mir halt erzählt wurde), aber ich weiß es auch von meinem Stiefvater aus der Zeit, in der sein Vater mit Lungenkrebs diagnostiziert wurde: Jedes „Ich weiß gerade nicht…“ hält die kommunikative Tür offen, übersehen „tötet“. (Das kann man mehrdeutig verstehen und muss man sich auch mal bewusst machen, ich hatte eine Kommilitonin mit MS, die wir zweimal vom Fensterbrett holen mussten, weil sie – damals 28, examinierte Krankenschwester – keine Möglichkeit hatte für sich damit zurechtzukommen, dass ihr komplettes Vor-Erkrankungsumfeld sie plötzlich nicht mehr kennen wollte. Partner weg, Freunde weg, Kollegen weg, in der Familie Redeverbot, sich bei uns als Außenseiter empfindend weil keine/r dieselbe Erkrankung hatte…)

        Ich selber hatte da mal ein sehr schönes Erlebnis – und ich meine das mit schön ernst, es hat mich positiv nachhaltig beeindruckt – in einem Betrieb, in dem ich arbeitete: Es kam eine Kollegin zu mir und stellte sich wie folgt vor: „Ich heiße M.K. und ich habe Angst vor Ihnen.“ Drei Tage später waren wir befreundet, so weit das nach der kurzen Zeit ging.

        Ich muss mal schauen, dass das andere im obigen Kommentar erwähnte noch was wird. Ist eigentlich so was wie ein „Outtake“ aus einem alten Projekt, das damals nicht Einzug fand, weil ich die Perspektive nicht nutzte, aber es passte sofort als ich den Satz im Generator gesehen habe. Obwohl er da eher ungenanntes Motto im erweiterten Sinn wäre, aber das gibt es ja auch.

        1. Ich finde das auch eine richtig schöne Geschichte und ich glaube, es wäre schon viel gewonnen, wenn wir alle unsere Unsicherheiten offen zum Ausdruck brächten, wenn wir fragen würden, falls wir nicht wissen, was für ein Verhalten oder eine Bezeichnung sich unser Gegenüber wünscht usw.
          Und dass die Genesungswünsche nicht zu spät kommen, freut mich natürlich nicht …

  9. Pingback ist schon angekommen 🙂 Nicht das, was ich erwähnt hatte, sondern etwas Spontanes, das strenggenommen auch in mein Stadtpoem gepasst hätte. Zu Klartext: dergl findet Werbung für gewisse Orte „schwierig“ und macht sich Gedanken darüber was Menschen, die diese Orte aufsuchen wohl denken und packt das in Fiktions-Worte.

  10. Ich habe dich nicht erkannt bei unserer ersten Begegnung. Es ist nichts passiert, nichts Großes und Überragendes. Es hat mich nicht durchgeschüttelt oder gepackt und es ist auch kein Wind gekommen und der Verdacht liegt nahe, dass so etwas nur in Filmen gibt. Die Realität war jedenfalls war sehr schlicht, ich hab dir die Hand geschüttelt, meinen Namen gesagt, du hast meine Hand geschüttelt und deinen Namen gesagt. Und wir haben gelächelt, ich ein wenig nach oben, du ein wenig nach unten, Zwei-Meter-Mann.
    Klar, hat mir das gefallen, dein Händedruck und deine Statur und all das. Und klar, mochten wir einander in diesem Moment, wir hatten so etwas wie einen Mögensvorschuss füreinander, du, der Freund einer Freundin, ich, die Freundin einer Freundin, da ist man erfreut, einander kennenzulernen, klar. Aber vielleicht ist das ist auch der absolut falsche Moment, der Moment, in dem man vielleicht sogar am allerwenigsten erkennen kann, gerade wegen des Lächelns und des Händedrucks, weil das ja der Standard ist und noch keinen Blick freigibt auf irgendwas.
    Das ich dich erkannt habe, dass etwas passiert war in der Zwischenzeit, das fiel mir erst sehr viel später auf, Wochen später, als ich vor dem Kleiderschrank stand. Mir fiel auf einmal auf, dass ich schön aussehen wollte, dass ich gründlicher als sonst darüber nachdachte, was ich anziehen sollte, dass ich in mir drin ganz fröhlich war, nicht wegen der anderen, die ich treffen wollte, sondern einzig, weil ich wusste, du kommst auch.
    Irgendwo zwischen dem Händeschütteln und dem Kleiderschrank musste es passiert sein, das Erkennen. Und ich versuche mich zu erinnen, was es wohl war. Irgendetwas in deinem Körper. Deine Hände vielleicht, die etwas merkwürdig Zärtliches haben, als hielten sie einen kleinen, zerzausten Vogel, immerzu. Deine Art, dich mir zuzuwenden, nur mich und sonst niemanden anzusehen, als gäbe es die Gruppe um uns herum nicht und als teilten wir etwas, Geheimnisse unter einer Bettdecke. Vielleicht war es die Musik, die in deinem Auto lief, als du mich mitgenommen hast. Kein Radiogedudel, sondern echte, richtige Musik, die in deinem Gesicht zu lesen war, deine Konzentration, die richtige Lautstärke, das leise Klopfen aufs Lenkrad. Vielleicht war es die Musik, von der ich wusste, das sie mit dir und mit mir spricht, dass sie mir etwas sagt und den Blick freigibt auf dich. Vielleicht war es all das.

    1. Also das gefällt mir wirklich sehr. Vielleicht, weil es ganz nah am Vertrauten ist und es dann doch immer wieder bricht. Oder drüber hüpft. Oder weht. Wie der Wind in der dritten Zeile. Vielleicht ist es das ,-)

Ich freue mich über Kommentare!

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