Ist das nicht seltsam?! Über die Notwendigkeit des Staunens für das Schreiben

FullSizeRender 5

Weniges ist für das Schreiben von Geschichten, von literarischen Texten so notwendig, wie das Staunen, das Wundern oder Verdutztsein. Ich habe hier früher schon einmal darüber geschrieben, dass Wilhelm Genazino nicht nur das Wort „verdutzt“ gerne verwendet, sondern seine Leser auch an der Verwunderung, der Irritation, die „das Leben“ bei seinen Protagonisten auslöst, in besonderer Weise teilhaben lässt.

Normalerweise ist unser Gehirn bestrebt, solche Momente der Irritation (der Kognitiven Dissonanz) zu minimieren, es ist für unsere Alltagstauglichkeit nicht sinnvoll, wenn wir ständig „stolpern“ oder „hängenbleiben“ und uns wundern, warum die Welt so ist, wie sie ist. Wenn wir aber schreiben wollen, ist es wichtig, auf  diesen anderen Modus der Wahrnehmung umzuschalten. Manchen fällt das leichter (oder es ist eben ihr „normaler“ Zustand), aber jede/r kann es üben und damit experimentieren.

Kürzlich hörte ich in einer Werkstatt den wunderbaren Text einer Teilnehmerin, die sich in der Straßenbahn sitzend gewundert hatte, dass die eintretenden Kontrolleure eher wie „Kriminelle“ aussahen. Damit fängt es an. Mit der Beobachtung, aber mehr noch damit, sie überhaupt zu registrieren. Denn in der konkreten Situation ist es ja vermutlich zunächst nicht mehr als ein minimaler Gedankenimpuls: Die sehen ja komisch aus! Dem muss man dann also nachgehen. Inwiefern komisch? Was genau ist seltsam daran?

Und dann hat man vielleicht eine Beobachtung, aber noch keine Geschichte, denn die Geschichte ist ja nicht: Eine Frau sitzt in der Straßenbahn und sieht Kontrolleure, die wie Rabauken aussehen. Die spätere Geschichte erzählte von einer älteren Frau, die in der Straßenbahn sitzt und auf solche Kontrolleure stößt. Nicht glaubt, dass es „echte“ sind, sondern Kriminelle. Was auch erklärt, warum ihre Handtasche (natürlich mit mit dem Fahrschein) verschwunden ist, offenbar von ihnen geklaut. Zum Glück kommt die Polizei, die sie dann aber „abführt“. Das alles war sehr komisch und hatte zugleich einen schönen Hintersinn.

Darum geht es also auch: Mit dem gewonnen „Was wäre, wenn …“-Material spielen, es größer machen. Übertreiben. Oder auch kleiner machen. Es an einen anderen Ort versetzen.

„Ist das nicht seltsam?!“ ist also eine grundsätzliche Anregung zum Staunen, Wundern, Verdutztsein ebenso wie eine konkrete Schreib-Anregung: Wer könnte sich wundern und worüber? An wen könnte der kurze Satz gerichtet sein? Was erstaunt euch, wenn ihr für einen kurzen Moment unterbrecht, was ihr gerade tut?

Wie immer freue ich mich über eure Reaktionen oder Texte! Auf eurem Blog oder hier im Kommentarfeld – es müssen keine “richtigen Geschichten” sein, eine kleine Skizze, Notiz oder auch nur etwas, das ein Anfang werden könnte – all das ist sehr willkommen!

24 Kommentare

  1. Verdutzt sein und Neugier ist unser täglich Brot. Ich bin gerade verdutzt von Dürers kunsttheoretischen Texten, die ich im Zusammenhang mit seinem Leben und Werk sehe und mit dem heutigen Künstlerleben vergleiche.
    Es scheint mir, soviel hat sich nicht geändert. Meine Gedanken dazu gehen außer in meinem Bachelor auch in meinen Zeichnungen ein.

    1. Liebe Susanne, vielen Dank für den kleinen Einblick in dein aktuelles „Verdutztsein“! Ich empfinde es auch eher als „täglich Brot“, denn als einen einzuübenden Zustand und erlebe aber immer wieder, dass es auch Menschen gibt, die eher selten ins Staunen geraten – dass ich mich darüber wundere, erwähne ich nur deswegen nicht, weil ich keine Freundin des Wortwitzes bin …

  2. Heute morgen stellte ich verwundert fest, dass es in Zürich offenbar Schulungen im „Fötzele“ gibt. Um jetzt die Verwunderung der NichtschweizerInnen nicht ins Unermessliche steigen zu lassen: „Fötzele“ bedeutet Abfall beseitigen. Hinter einem Herrn in städtischer Jacke bewegte sich eine Gruppe von 12 jungen Männern mit schwarzen Wollmützen und orangefarbenen Westen über den Platz, die mit Greifarmen Zettel und Bierdosen ebenso auflasen wie Apfelkitschen und Zigarettenstummel. Gerade so, wie es der Mann, der vorneweg ging, erklärte. Ich hielt die jungen Männer von da, wo ich sass, für Nichtschweizer. Ich denke, ich werde dem nachgehen. Es hat mich „gwundrig“ gemacht, oder „wunderfitzig“. Also neugierig. Was glaub wie das Wundern zum Schreiben gehört.

    1. Liebe Ulrike, was ist das denn für eine wunderbare Beobachtung, die mich (uns) darüberhinaus auch noch mit neuem Vokabular versorgt: „Wunderfitzig“ werde ich mir merken, ob „Fötzele“ in meinen aktiven Wortschatz gelangt?! Wenn es jemand erfahren wird, dann du 😉

  3. Ich habe bei mir gerade einen Artikel „geplant“ (veröffentlicht sich selber Freitag), der auch eine „Verwunderung“ beschreibt. Reale Szene heute Mittag im Hausflur. Wenn man nur das sieht was war ließe sich da sicher auch was draus abstrahieren für eine Geschichte. Meine Nachbarin war sehr erstaunt. (Habe ich in meinem Text nicht gemacht, weil ich die Szene extrem exemplarisch für genau dieses Verhalten fand und im Artikel den Hintergrund kläre, weil auch das zum Blog-Themenkreis bei mir gehört.)

      1. Na, mal sehen. So was findet man ja eigentlich laufend. Mir fallen auch bei Blogtexten von mur manchmal welche im Nachhinein auf, wo ich denke jemand anderes, der mit Szenen statt Atmosphäre arbeitet, könnte aus eingem wer weiß was in Fiktion machen. Mir geht es dann im Blog, was ja nicht fiktiv ist, eher drum ob ich die Leute gut „portraitiere“, was für mich eine Übung ist, also ob rüber kommt für einen Fremden warum die sich so verhalten.

        In dem was da morgen kommt ist es halt so, wenn man nicht weiß warum der Mann so reagiert kann man da x Gründe reininterpretieren und meiner alten Nachbarin (90) hat halt nie einer so eine Frage gestellt und dabei so körperlich reagiert.

  4. Liebe Jutta, das scheint mir eine gute Gelegenheit zu sein, wieder einmal meine Lieblingsfrage anzuwenden:
    Wie geht es Dir nicht?
    Sie stammt aus der Kategorie #täglichmerkwürdigfragen
    und dient dem Zweck zu verwirren ( zu verdutzen 🙂 )
    Beste Grüße und ein Kompliment für Deine interessanten, guten Beiträge, die ich sehr mag! Mensch Päddra

    PS Es gibt auch schon einige weitere Fragen in der oben erwähnten Kategorie aber sie sind mir noch nicht eingefallen.

    1. Liebe Marion, ich möchte das Wort nun eigentlich nicht überstrapazieren – aber es ist wirklich ein ganz wunderbarer Text geworden und ich freue mich sehr, dass ich mit meiner „Anstiftung“ ein wenig dazu beitragen konnte und dein Text hat, wie man den vielen zustimmenden Kommentaren entnehmen kann nun seinerseits zu Fragen und Nachdenken angestiftet und so entsteht ein großes „Gewebe“, ein Text eben 😉 Herzliche Grüße!

      1. Danke für deine gute Anstiftung, liebe Jutta. Es gefällt mir, wenn Fragen, Sätze und Silben sich verbinden und Fäden gesponnen werden. Danke fürs Fäden legen…

  5. Ein schöner Beitrag, der auch soviel Lebensphilosophisches enthält: Wer das Staunen verliert, dem entgeht so viel. Das ist es, was ich an Genazino so mag: Seine Fähigkeit, im Alltäglichen das Besondere zu entdecken Er kann noch staunen wie ein Kind. Und dadurch sieht er sovieles, was anderen nicht beachtenswert erscheint – und dabei doch höchst spannend ist. Schön, dass das in deinen Kursen Thema ist!

  6. Ein kluger und aufweckender Beitrag, plus die Kommentare und Antworten sind so gut, dass ich am liebsten staendig meinen Senf dazugeben moechte.
    Und, das habe ich schon beim Frau am Fenster Stichwort gedacht, sehr generoes und liebenswürdig von dir Menschen zum Schaffen aufzurufen, ermuntern und anzuregen.
    Ich muss mich oft daran erinnern nicht abzuschalten in der U-Bahn oder auf der Strasse und in meiner eigenen Welt zu verschwinden.
    P.s. Ich bin dem Link im Kommentar oben gefolgt und leider von deiner Seite weggekommen. Wenn du willst,kannst du es bei Customize so hinbiegen, dass ein Link in einem neuen Fenster erscheint.
    Liebe Grüsse, Dagmar

    1. Liebe Dagmar, ständiges „seinen Senf dazugeben“ ist auf diesem Blog nicht nur erlaubt, sondern unbedingt erwünscht – gerade auch bei älteren Beiträgen, auf die ich selbst dadurch manchmal erst wieder aufmerksam werde …
      Und es freut mich sehr, dass du hier weitere Anregungen findest.
      Was deinen Hinweis betrifft: ich bin dafür sehr dankbar, weil ich mich mit der technischen Seite des Blogs vor allem „anlassbezogen“ beschäftige – und daher auf „Fehlermeldungen“ oder „Verbesserungshinweise“ (die dürfen sich auch gerne auf Nichttechnisches beziehen) sehr angewiesen bin. Im konkreten Fall ist es leider so, dass ich im Moment noch nicht verstehe, worin genau das Problem besteht. Bei mir ist es so, dass ich, wenn ich auf die Links gehe, auf die betreffende Seite komme und durch Klicken auf „zurück“ wieder auf meinem Blog lande. Ist das bei dir anders oder ist das bei dir auch so und du würdest es anders aber komfortabler finden?

      1. Liebe Jutta, ich werde von dieser Erlaubnis nach Herzenslust Gebrauch machen!
        Was du sagst, stimmt, aber für das Surfing ansich und für deine Seite ist es besser wenn ein neues Fenster entsteht, weil so behaeltst du die Besucher bei dir. Im Netz kommt man schnelll vom Hundersten ins Tausendste und dabei kann deine Seite im Onlinegestrüpp verloren gehen.
        Ich wünsche dir einen schoenen 4. Advent.

        1. Liebe Dagmar, ich verstehe das – halbwegs. Und werde beim nächsten verlinken ausprobieren, ob es mir gelingt, es anders zu machen. Sonst darf ich vielleicht bei dir nochmal nachfragen? In jedem Fall auch dir einen schönen 4. Advent! Und nicht vergessen: wildes drauflos Kommentieren unbedingt erwünscht 😉

  7. Kennst du die kurzen Texte von Richard Brautigan, übersetzt von Günter Ohnemus? Der brachte immer so wundervolle Verschiebungen in den Text hinein, wie z. B. er beobachtet zwei Schneeflocken und sieht den kleinsten Schneesturm der Welt (oder so ähnlich, lange her, dass ich es las)

  8. Ich halte inne …
    Verzichte vorläufig auf das Lesen der Kommentare, die erst hinterher dran sind.
    Unverfälscht will ich staunen.
    Und WIE ich staune!
    In vier Räumen brennt Licht!
    Nur zwei enthalten Leben.
    Zwei Menschen am PC.
    Jeder in seinem Raum.
    Und warum dann Licht in vier Räumen???
    Eigentlich – jaaaa, EIGENTLICH wollten wir, da es auf Mitternacht zugeht,
    beide ins Bett gehen.
    Treppe hoch … Licht im Treppenhaus an (sonst würde man ja im Dunkeln den Weg nicht sehen),
    dann ins Bad … Licht an … das im Treppenhaus bleibt an, denn es wird zur Durchquerung Richtung Schlafzimmer noch gebraucht.
    „Ach, ich wollte doch noch kurz meine Mails checken … (nicht die Welt retten).“
    So verschwindet einer von zweien in seinem Zimmer am PC.
    Der andere wird mitgerissen – in sein Zimmer – auch mal eben noch die Mails checken.
    Und es ist wie (fast) immer: Beide bleiben kleben (ich übrigens mit dem Beschreiben meines Erstaunens – ha ha!).
    Nun einmal durchgezählt: Licht an in vier Räumen.
    Treppenhaus, Bad, Büro … seins, Büro … ihrs.
    Und warum staune ich, obwohl es gar nicht so selten vorkommt?
    Weil ich noch nie aufgemerkt habe, während ich abends noch mal schnell die Mails checken wollte.
    Und wer hat das angestoßen???
    DU, Jutta!
    Jetzt aber Schluss und schnellstens das ungenutzte Licht aus.
    Augen zu, schlafen, nicht ohne vorher über diesen ganzen Stuss nochmal gründlich zu lächeln.
    Übrigens … ich LIEBE das Staunen!!!

    Danke für den Anlass!
    Und … ich werde mich bessern, versprochen!

    Kommentare lesen?
    Jetzt noch?
    Nö …

    Gute Nacht
    wünscht Ulrike
    (die gerade hört, wie jemand im anderen Büro das Licht ausknipst )

Ich freue mich über Kommentare!

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..