„Wenn wir schreiben, spüren wir die Welt in Bewegung“ (David Grossman)

„Wenn ich schreibe, selbst jetzt, kreist die Welt mich nicht ein, wird nicht immer enger: Sie weist auch auf Öffnung und Zukunft hin. Ich schreibe. Ich ersinne. Der Akt des Ersinnens an sich belebt mich. Ich bin nicht starr und gelähmt ob des Verfolgers. Ich erfinde Figuren. Manchmal meine ich, Menschen aus dem Eis auszugraben, in das die Wirklichkeit sie eingefroren hat, aber vielleicht grabe ich mich nun vor allem selbst aus.“

Dieses Zitat ist Teil einer Rede, die David Grossman 2007 in New York beim PEN-Festival „World Voices“ zum Thema Meinungsfreiheit gehalten. Die ZEIT hat die gesamte (leicht gekürzte) Rede hier in einer Übersetzung aus dem Hebräischen von Ruth Achlama veröffentlicht.

Nur ein Jahr, bevor David Grossman diese Rede hielt, kam sein Sohn Uri 2006 in den letzten Tagen des Libanonkrieges ums Leben. David Grossman schrieb zu diesem Zeitpunkt an dem Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“, der Geschichte einer Frau, die sich aus Angst davor, ihr Sohn könne im Krieg sterben, auf eine Wanderung, eine Odyssee begibt. Wenn sie nicht zu Hause ist, kann es ihr niemand sagen und wenn es ihr niemand sagen kann, kann sie die schreckliche Nachricht nicht erreichen und wenn …

Ora, so heißt die Heldin der Geschichte, versucht auf eine magisch anmutende Weise ihren Sohn zu beschützen und David Grossmann hat, in dem er diese Geschichte schrieb, ebenso und tragisch vergeblich versucht, seinen Sohn Uri zu beschützen.

In der Woche nach dessen Tod traf Grossmann Amos Oz und sagte zu ihm, er sei nicht sicher, ob er das Buch retten könne und „Amos hat geantwortet: Das Buch wird dich retten, David.“ Dieses Zitat stammt aus einem Beitrag, den Carolin Emcke ebenfalls für die ZEIT geschrieben hat und der ebenfalls sehr lesenswert ist.

Damit setze ich die kleine Reihe, die sich mit Themen rund um das „Autobiografische“ beschäftigt fort.  Und weiter interessiert mich besonders die Paradoxie des „Wir können es nicht erzählen, aber zugleich müssen wir es“, das bei Grossman den Zusatz erfährt „… und vielleicht ist das Schreiben unsere Rettung“.

Ich freue mich weiter über Austausch, Resonanz, Anregungen und Fragen!

12 Kommentare

  1. Liebe Jutta, diese Zitate sind die stärksten Ermutigungen zum autobiographischen Schreiben, die ich je gelesen habe. Mir stehen die Tränen in den Augen, ich danke Dir so sehr für diesen Beitrag!

  2. Ich habe bei mir irgendwann im November ein Zitat von Ai Weiwei irgendwo in einen Artikel gesetzt:

    „Wer über sich reden will braucht eine Geschichte. Aber niemand hat darüber nach gedacht was eigentlich unsere Geschichte ist.“

    Er meint das eigentlich in einem anderen Kontext, auf China, nicht Personen bezogen, aber hat mich damals regelrecht angesprungen als ich es gelesen habe. Ich hatte es auch im Atelier hängen. Ich komme ja aus einer Familie in der so gut wie gar nicht offen kommuniziert wurde, was sehr prägt. Ich konnte lange Zeit gar nicht über mich reden. Vorstellungsrunden und so was waren ein Graus.

    Ich finde interessant, dass du Emcke erwähnt hast. Kennst du ihr biographisches Essay Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF.? Sie ist die Patentochter von Alfred Herrhausen, also eine Angehörige, und beschreibt ihren Umgang damit und wie schwer das ist, weil man nicht reden darf oder kann. Ich habe auch von diesem Buch sehr viel gelernt.

    1. Vielen Dank für den Hinweis auf den Emcke-Text, von dem ich wusste, der mir aber immer wieder „durchgerutscht“ ist und auch für das Zitat von Ai Wieweit – das ist auch für mich ein sehr weites Feld, das „Erzählen“ und die Frage nach der „Geschichte“, die sich aus ganz unterschiedlichen Gründen eben nicht oder nicht vollständig erzählen lässt …

  3. Liebe Jutta, danke für den Hinweis, er stellt den Krieg in seiner gesamten Tragik dar. Ich fühlte mich sofort an Käthe Kollwitz und ihr Werk erinnert. Ob das je aufhört? Das Eltern ihre Kindern im Krieg verlieren? Wie sinnlos das doch ist!
    LG Susanne

  4. Liebe Jutta, ich sitze hier und es laufen Schauer hoch und runter – ich glaube es war in Siri Hustvedts Roma „Was ich liebte“ in dem ein Autor auch genau die Geschichte schrieb, die dann eintraf und wieder frage ich mich was wissen wir schon lange, bevor es wirklich geschieht? Diese Frage stellte ich schon des öfteren, meisten in Bezug auf meine Fotoarbeiten (Montagen), seltener bei meinen Texten, da habe ich eher das Gefühl von Verdauung.
    Ich danke dir auch für die Links, den zweiten Beitrag habe ich gerade gelesen … schreiben als Rettung, spazierengehen für die Trauer, nicht wütend werden, weil sonst der Sohn nicht mehr nah ist, das alles sind Sätze, die unter die Haut gehen!
    bewegte Grüsse
    Ulli

    1. Ich finde das alles auch sehr berührend – und tatsächlich auch ermutigend … Die Frage danach, wann wir was wissen (können), ist nicht so sehr meine, aber ich kann natürlich nachvollziehen, dass das eine umtreiben kann – gerade auch bei diesem Text. Sehr herzlich!

  5. Was für eine berührende Notiz, liebe Jutta! Die Geschichte von David Grossmann haut mich, seit ich sie das erste Mal hörte, immer wieder um. Hätte sich das einer ausgedacht, man würde es wohl als allzu konstruiert abtun. Schreiben als Schutz – was wäre das schön. Schreiben als Rettung, das kenne ich in sehr viel kleinerem Maß auch.

    1. Ja, es ist eine unglaubliche Geschichte! Und es ist so beeindruckend, was David Grossman über das Schreiben sagt. Für mich ist daran besonders, dass es nicht darum geht, „darüber“‚zu schreiben, sondern um die Kraft, die in der Bewegung, im „Ersinnen“, in der Kreativität liegt … Ich grüße sich sehr herzlich – und bewege mich jetzt mal nach Berlin 😉

  6. Na dann, GUTE REISE und komm wieder.
    Bitte, bring einen Rucksack voller neuer Ideen mit. Ach, wie ich Geschenke liebe.
    Wenn ich es sagen darf, ich freue mich schon auf die nächsten, nicht zu schmalen Beiträge.
    Herzliche Grüße

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