(4) Meine Geschichte schreibe ich selbst

imageVorgestern hatte ich noch voller Vorfreude dieses Foto meiner Vorbereitungen auf den Tageskurs „Meine Geschichte schreibe ich selbst“ getwittert und mich dann nach getaner Arbeit vor den Fernseher gesetzt, um mir das Fußballspiel in Paris anzuschauen.

Gestern morgen war mir dann schlecht vor Entsetzen und ich wäre gerne zu Hause geblieben. Hätte allerdings niemand geholfen. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich Unterstützung bräuchte und deswegen habe ich Boris Cyrulniks „Rette dich, das Leben ruft“ eingepackt. Es ist die Lebensgeschichte des französischen Neuro-Psychiaters, Psychoanalytikers und Resilienzforschers, der darin einerseits von den furchtbaren Ereignissen seiner Kindheit während des Holocaust berichtet und andererseits diese und spätere Erlebnisse mit Erkenntnissen der Trauma- und Resilienzforschung in Beziehung setzt. Wie funktioniert unser Gedächtnis, wie weit können wir unseren Erinnerungen trauen und welche Rolle spielen „kollektive Erzählungen“?

Cyrulnik findet einen Ton, der scheinbar mühelos die besondere Situation des „Überlebenden“ mit der sachlichen Position des Wissenschaftlers verknüpft. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass Cyrulnik selbst 40 Jahre geschwiegen hat. Keine Möglichkeit sah, seine Geschichte zu erzählen. Und der darüber schreibt, wie verheerend die Folgen sind, wenn das traumatische Ereignis (oder die Ereignisse) nicht Teil der (erzählten) Lebensgeschichte werden können, (auch) weil niemand zuhört. Die Geschichten aushält.

„Vierzig Jahre Schweigen. Was nicht heißt, vierzig Jahre ohne stumme Erzählungen und Berichte. Denn ich selbst habe mir meine Geschichte oft erzählt, aber anderen nicht. Ich hätte gerne davon gesprochen. Ich spielte darauf an, kam auf die Ereignisse von früher zu sprechen, aber jedes Mal, wenn ich ein Stückchen Erinnerung preisgab, ließ mich die Reaktion der anderen verstummen, weil sie verwirrt waren, skeptisch oder allzu fixiert auf mein Unglück. Ich hätte gern ganz einfach von meinen Erlebnissen gesprochen, aber kann man darüber einfach sprechen?“

Vielleicht ist das der Grund, warum ich heute darüber schreibe. Weil ich für möglich halte, dass viele Menschen das nicht wissen: Wie entscheidend es sein kann, anderen zuzuhören. Auch schwierigen Geschichten oder verstörenden. Oder solchen, die in einer scheinbar endlosen Schleife immer wieder erzählt werden. Aber was soll man denn zu solchen Geschichten sagen? Man muss gar nichts dazu sagen – oder jedenfalls nichts „Besonderes“ oder „Kluges“. Es reicht aufmerksam zuzuhören. Offen und mit dem Mitgefühl, das wir mobilisieren können. Ob ein Ereignis zu einem Trauma wird, entscheidet sich erst „nachher“ und deswegen ist es für viele Menschen überlebenswichtig, dass sie verlässliche und unterstützende Anteilnahme finden.

Nochmals Cyrulnik: „Daraus können wir schließen, dass die beiden wertvollsten Schutzfaktoren die sichere Bindung und die Fähigkeit der Verbalisierung sind. Der Umstand, dass wir in der Lage sind, uns von dem, was uns zugestoßen ist, eine sprachliche Vorstellung zu machen, und jemanden zu finden, dem wir von ihr berichten können, erleichtert die emotionale Bewältigung“.

Wir hatten dann noch einen ziemlich guten Tag mit erstaunlich vielen Geschichten, die schon länger darauf warteten, erzählt und gehört zu werden. Es gab berührende Momente und auch sehr komische und als wir auseinander gingen, fühlte vermutlich nicht nur ich mich beschenkt. Ich habe den Kurs beendet, indem ich den Anfang von „Rette dich, das Leben ruft“ vorgelesen habe:

„Ich wurde zweimal geboren. Bei meiner ersten Geburt war ich nicht dabei. Mein Körper kam am 26. Juli 1937 in Bordeaux zur Welt. Das wurde mir gesagt. Und ich muss es wohl glauben, denn ich habe keinerlei Erinnerung daran. Meine zweite Geburt ist mir genau im Gedächtnis geblieben. Eines Nachts wurde ich von bewaffneten Männern festgenommen, die mein Bett umringten. Sie holten mich, um mich zu töten. In dieser Nacht beginnt meine Geschichte.“

(„Meine Geschichte schreibe ich selbst“ scheint das „heimliche Motto“ meiner unterschiedlichen Aktivitäten rund um das Schreiben zu sein und ich enwickele hier auf dem Blog in loser Folge meine Gedanken dazu. Kürzlich habe ich darüber geschrieben, wie viele meiner Beiträge erst durch die Anregungen anderer Blogger:innen enstanden – für dieses Thema gilt mein Dank gleich in doppelter Weise Kai, dessen „Zitat des Tages“ ich die Begegnung mit Boris Cyrulnik erst verdanke (dort finden sich auch weitere Links zu Cyrulnik und der Resilienzforschung) und den Hinweis, dass mein „Motto“ auch für andere fruchtbar sein könnte …)

21 Kommentare

    1. Sehr gerne! Ich habe das Buch schon mehrfach weiterempfohlen und denen, die es dann gelesen haben, war die Lektüre ganz offenbar so „wertvoll“ und teilweise hilfreich wie mir selbst … Würde mich freuen, wenn es dir ähnlich ginge!

      1. So, mittlerweile gelesen.
        Sehr interessant und bemerkenswert. Allerdings werde ich es nochmal (oder in Auszügen noch öfter) gründlicher – auf mein eigenes Ich bezogen – durcharbeiten.
        Also: Dein Tipp war gut.
        LG Erich

  1. „Jedes Mal, wenn wenn ich ein Stückchen Erinnerung preisgab, ließ mich die Reaktion der anderen verstummen“
    „Vielleicht ist das der Grund, warum ich heute darüber schreibe. Weil ich für möglich halte, dass viele Menschen das nicht wissen: Wie entscheidend es sein kann, anderen zuzuhören.“

    Liebe Jutta,
    das Buch von Cyrulnik habe ich gleich auf meine Leseliste gesetzt.

    Das Thema – schreiben, weil man nicht sprechen kann, nicht sprechen können, weil die Menschen nicht einfach zuhören können – beschäftigt mich schon sehr lange. Auch die „Erinnerungen an Olga“ handeln davon, die ich in meinem Blog fortsetzen werde.

    So wie Du Dein Motto „Meine Geschichten schreibe ich selbst“, das u.a. dazu ermutigt, sich beim Schreiben nicht von seinem Weg abbringen zu lassen. Seine Geschichten kennt man nur selbst, und so kann man über die Form, in die man seine Geschichten kleidet, auch nur selbst entscheiden.

    Verregnete, aber herzliche Grüße!

    https://tangofiligran.wordpress.com/2015/09/15/erinnerungen-an-olga-2/

  2. Vielen Dank für deinen Link – ich habe deine „Erinnerungen an Olga 2“ sehr gerne, sehr berührt gelesen. Es ist ein kurzer Text und es steckt so ungemein viel lebenskluge Erfahrung darin – und dann wird Olga auch noch so lebendig …
    Der Cyrulnik wird dir (ich kann es mir gerade nicht anders vorstellen) neue Impulse und Erkenntnisse ermöglichen, mir ging es jedenfalls so. Obwohl ich mich auch nicht erst seit gestern mit diesen Themen beschäftige … Auch verregnete, auch herzliche Grüße!

  3. Es steht immer noch auf meiner Wunschliste, Jutta. Ich habe es auch bei Kai das erste mal entdeckt.
    Mir hat das Zitat zur Verbalisierung gefallen. Gut, dass es die Sprache gibt. Vielleicht würde es schon helfen, wenn die Menschen eine Sprache sprächen!
    Die Geschichte vom Turm von Babylon ist schon sehr aussagekräftig.
    Liebe Grüße und ein schönes WE von Susanne

    1. Liebe Susanne, auch dir ein schönes WE – und ja, die Geschichte vom Turm zu Babel empfinde ich auch als sehr aussagekräftig – wobei die Tragik ja manchmal gerade darin besteht, dass wir uns nicht verständigen, nicht austauschen können – obwohl wir die (vermeintlich?) gleiche Sprache sprechen … Herzliche Grüße auch an dich!

  4. Danke für den Tipp, ich werde gern mal reinlesen. Habe gerade mit Freuden festgestellt, dass meine geliebten Hamburger Bücherhallen es haben …
    Liebe Grüße
    Christiane

  5. Oh vielen Dank, das passt wieder so gut zu meinen Themen. Ja der Ausdruck, eine Möglichkeit sich auszudrücken und gesehen bzw gehört zu werden. So ist doch so oft das Gegenüber soviel wichtiger als gedacht… eine Resonanz die einfach da ist un zuhört, zusieht. Auch danke für den Buchtip, kenne diesen Forscher noch nicht und beschäftige mich schon länger jetzt mit dem Thema Trauma, welches mir oft nicht so scheint das es verstanden wird. Was in diesem Fall aber nicht die Frage ist. Und auch Danke für das Foto deines Textes, es passt grade gut zu einer biografischen Kurzgeschichte an der ich arbeite und bei der es mich geradezu überraschte das ich ja die Freiheit habe an gegebenen Punkten etwas zu ändern, denn ich erzähle Sie. So gehe ich aus von etwas Ereignetem, Gewesenem hinüber zur Erinnerung und beim Schreiben kommt manches hinzu und manches bleibt weg und dann kann ich immer noch ändern. Ganz wunderbar finde ich das. Und oft wundere ich mich später über geschriebenes – wie sich nämlich im schreiben plötzlich verlorene Erinnerung einstellt. Ich hab mich durchaus schon das eine oder andere mal gewundert was ich da geschrieben hatte…

  6. Liebe Jutta,
    vielen lieben Dank für Deinen Dank – ich vermute, der Nordmensch hätte darauf mit einem charmantvernuschelten danichfür geantwortet…
    Jedenfalls ist es wirklich interessant, wie das Thema doch bei einigen von uns (LiteraturBloggern meine, mich frech dazuzählend) quasi immer wieder Fäden zieht.
    Im Moment scheint das Thema Resilienz ja gradezu im rasenden Galopp erst enttabuisiert, dann für alles benutzt/missbraucht und am Ende ganz schön gehyped zu werden. Das ist schade, denn hierzulande passiert dann ja immer dasselbe: ein hochkomplexes Thema wird bildzeitungsniveautechnisch vereinfacht und dann entsprechend verhackstückt. Unter anderem dazu gibt es einen sehr interessanten, längeren Artikel in oder auf ZEIT online http://www.zeit.de/2015/45/resilienz-forschung-krisenbewaeltigung/komplettansicht
    In diesem Sinne liebe Grüße aus dem Rosa Haus
    Kai

    1. Lieber Kai, ja, das ist immer wieder erstaunlich, welche Themen und Begriffe wann Konjunktur haben – und mich macht die übliche Thematisierung von Trauma und Resilienz oft unfroh. Was mich am meisten stört: dass oft der Eindruck erweckt wird, als wenn das alles vom Einzelnen abhinge. Als wenn die „einen es schaffen, über sich hinaus zu wachsen und die anderen eben nicht“. Als wenn da nicht eben ganz viele sehr konkret benennbare Faktoren eine Rolle spielten, auf die der einzelne keinen Einfluss hat: von Menschen „gemachte“ Trauma sind schwerer zu verarbeiten als Naturkatastrophen, das Alter, die Bindungserfahrungen, innerhalb oder außerhalb der Familie, die Unterstützung später – all das spielt eine entscheidende Rolle und beeinflusst die Wahrscheinlichkeit von Traumafolgestörung ganz erheblich.
      Wir sollten nicht so von Resilienz reden, dass diejenigen, denen Furchtbares widerfahren ist, noch mehr unter Druck geraten, als wenn sie nur das richtige tun müssten …
      Ich grüße dich sehr herzlich!

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