Genazino, die Rätselhaftigkeit der Welt und das Verdutztsein

Ob wir es wollen oder nicht – wir müssen die Komplexität der uns umgebenden Welt radikal reduzieren – anders haben wir keine Chance zu überleben. Eine Möglichkeit besteht darin, dass wir vereinfachende Annahmen über das Leben entwickeln – was im übrigen ein eindeutig kreativer Vorgang ist. Wir tun z. B. so, als wenn wir wüssten, was in den Köpfen uns nahestehender Menschen im großen und ganzen vor sich geht und wir unterstellen oder konstruieren oft eine Sinn- und Regelhaftigkeit des Geschehens – solange es irgendwie gut geht. Und in sehr vielen Fällen geht das sehr lange gut. Es geht oft so lange gut, dass wir vollkommen vergessen, dass unser Leben und die darin auftauchenden Menschen mit ihren Beziehungen und Jobs und Angewohnheiten ja doch eigentlich eher seltsame Geschöpfe sind.

UND DANN KOMMT GENAZINO – und erinnert uns daran. An diese ganze Rätselhaftigkeit der Welt. Und plötzlich können wir keinen Fuß mehr vor die Tür setzen, ohne ganz „verdutzt“ zu sein – was ja nicht zufällig eines der Lieblingswörter von Genazino ist. Wir sehen einen einzelnen Damen-Schuh auf dem Spielplatz oder eine Anzugjacke auf dem Balkon (oder wir lesen von jemandem, der einen Schuh sieht oder eine Jacke) und wundern uns. Wir wundern uns vielleicht so sehr, dass aus dem fröhlichen Verdutztsein sogar ein unbehagliches Verstörtsein werden kann – auch das ist möglich.

Und das wirklich Wunderbare an Wilhelm Genazinos Texten ist, dass oft ein sehr kleines Detail, eine sehr kleine Beobachtung schon ausreicht:

„Eine Kassiererin zieht ein Preisschild von einer Dose Konserven herunter und klebt es sich auf den Unterarm. Ich warte, dass sie es wieder entfernt, aber sie ist zu sehr mit dem Eintippen von Warenbeträgen beschäftigt. Ich starre auf das Preisschild auf dem Unterarm und spüre das Bedürfnis, die Kassiererin an der Hand zu nehmen, sie aus dem Supermarkt herauszuführen. Aber ich weiß, dass mein Wunsch, unmittelbar und sofort in einer würdigen Welt zu leben, nur die Gestalt meines Wahnsinns ist, der auf seine Gelegenheit wartet.“(Aus: „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“)

Zum Ende eine Warnung: Es kann sein, dass wir den verdutzten Blick, wenn wir ihn einmal entdeckt haben, gar nicht mehr loswerden, nicht mehr „abschalten“ können. Das Schreiben wird dadurch vielleicht einfacher, das Leben vermutlich nicht …

10 Kommentare

  1. Ich habe innerlich gejubelt und applaudiere zusätzlich: Genazino ist so wunderbar – und das ist ein toller, angemessener Beitrag über ihn. Klasse – habe ich mit allergrößter Freude gelesen!

  2. Dieser 21. Beitrag gefällt mir besonders gut, denn Genazino lesend kann ich auch notfalls ohne zu schreiben den Alltag gut verstehen und ihn leben – mit dem Schreiben vielleicht noch besser……………..!?
    Danke, liebe Jutta!

  3. Ich hatte das „Genazino“-Thema schon ziemlich lange vor mir her geschoben, weil ich mit dem, was mir dazu einfiel, nicht zufrieden war. Und dann passierte zweierlei: Jeden Tag erinnerte mich die Schlagwort-Wolke an mein Versäumnis – und zuletzt beschied mich Martina Wald (vom wunderbaren gleichnamigen jedentagzeichnen-blog) in einem Kommentar, dass es ALLERHÖCHSTE Zeit dafür wäre. Freut mich nun wirklich sehr, dass der Beitrag auf so freundliche Resonanz stößt.

Ich freue mich über Kommentare!

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